0753 - Die Blutbuche
hatte er den endgültigen Beweis für den Tod seiner Frau nicht bekommen, doch das Gegenteil davon hatte er auch nicht gesehen. Sie war und blieb verschwunden.
Vielleicht in der Erde.
Vielleicht von unbekannten Kräften tief hineingezogen. In die Fesseln des Wurzelwerks gelangt, hatte sich aufgelöst, um als flüssige Nahrung den Stamm und die Äste zu durchwandern.
Er stöhnte auf.
Dann berührte etwas seinen Fuß. Es klatschte genau auf die Kappe, und er schaute sofort hin.
Nichts mehr zu sehen. Aber er hatte sich nicht getäuscht. Bis ihm auffiel, daß einer der hellen Wurzelstränge seine alte Lage verändert hatte und jetzt wie eine gekrümmte Schlange links von ihm ihren Platz gefunden hatte.
Dort war sie vor einigen Sekunden noch nicht gewesen.
Er fürchtete sich.
Auf einmal war alles anders geworden. Im Boden, tief unter ihm, fand ebenfalls eine Veränderung statt. Er glaubte, ein leises Donnern oder Rumoren zu hören, und wieder stellten sich seine Haare auf. Die Kälte und die Hitze überkamen ihn gleichzeitig. Er wußte, daß er wegmußte, daß diese Stelle hier unter dem Baum für ihn lebensgefährlich werden konnte. Wenn er starb, nutzte es seiner Frau auch nichts. Wenn er aber lebte, hatte er möglicherweise noch die Chance, sie zu finden. Diese Tatsache beeinflußte seinen Entschluß.
Er mußte einfach rennen. Er konnte nicht langsam oder normal gehen. Und er kam sich vor, als er die Umgebung der Blutbuche verlassen hatte, wie ein Mann, der von der Hölle ausgestoßen worden war.
Auf dem Weg zum Haus stolperte er über ein Hindernis und fiel hin. Carr fluchte nicht einmal, er lag auf dem Boden und hätte sein Gesicht am liebsten in die Erde gedrückt, um alles zu vergessen.
Das tat er nicht. Statt dessen stemmte er sich hoch, kam auf die Beine und lief in einem Zickzack-kurs auf das Haus zu, das ihm bisher immer eine gewisse Sicherheit gegeben hatte, ihn jetzt aber abstieß. Mit der Schulter rammte er die Tür auf. Im Flur lehnte er sich gegen die Außenseite des Treppengeländers, riß seine Jacke vom Leib und schleuderte sie zu Boden.
Amos Carr roch nach Schmutz, nach Schweiß und auch nach Blut. Das jedenfalls glaubte er. Innerlich fühlte er sich wie ausgetrocknet, als wäre in seinem Körper eine Wüste.
Er taumelte auf die Küche zu. Mit der Schulter drückte er die Tür auf. Das Mondlicht schien in den relativ großen Raum. Es hatte auch einen Schleier über den Tisch gelegt.
Und genau dort saß eine Gestalt, die so aussah, als könnte sie es nicht geben…
***
Sie war witzig und schaurig zugleich!
Aber nicht so witzig, als daß er hätte lachen können. Dieses Gefühl war längst nicht mehr in ihm.
Amos Carr stand nur da und staunte. Seine Augen waren weit aufgerissen, sie wirkten überhaupt nicht mehr menschlich, sondern künstlich. Sie bestanden aus hellem und dunklem Glas, und seine Lippen zitterten, obwohl er den Eindruck hatte, sein Mund wäre eingefroren.
Wer war dieser Unbekannte?
War er ein Mensch, war er Zwerg oder eine Mischung aus beiden, die dann eine Spielzeugfigur ergab, mit denen sich Jungen gern beschäftigten. Für ihn war die im blassen Mondlicht leuchtende Gestalt so etwas wie ein Krieger.
Sie war bewaffnet. Der rechte Arm stand in einem bestimmten Winkel vom Körper ab. Die Hand umschloß den Griff einer Lanze, deren glänzende Spitze auf ihn zeigte. Diese Gestalt machte den Eindruck, als wollte sie die Lanze jeden Augenblick loslassen und auf ein bestimmtes Ziel schleudern.
Dabei stand er im Zentrum.
Amos Carr sah auch den glänzenden Körper. Bis auf einen Lendenschurz war er nackt. Er richtete seinen Blick auf das Gesicht des kleinen Wesens, und ihm kam es vor, als würde ihn ein Todfeind anstarren.
Eine Erklärung für das Auftauchen dieser Gestalt hatte er nicht. Obwohl sie sich nicht bewegte, war sie für ihn nicht tot. Sie lebte, sie mußte einfach leben. Er konnte sich auch nicht vorstellen, daß sie von irgendeiner Person einfach in die Küche gestellt worden war. Nein, die war von allein gekommen.
Konnte sie auch reden? Wenn ja, wußte sie möglicherweise, was mit Betty geschehen war?
Es war in dieser Nacht vieles geschehen, für das ihm die Erklärung fehlte. Auch die vorher stattgefundene Veränderung auf seiner Handfläche zählte dazu, aber das alles ergab keinen Sinn, auch wenn er versuchte, es mit dem Auftauchen des Wesens in einen Zusammenhang zu bringen. Ihm wurde nur bewußt, daß es in seiner Nähe Kräfte gab, die ihn
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