0757 - Das Reich der Großen Schlange
Tungusen nicht danach zu fragen. Er spürte, dass er dann ohnehin keine aufrichtige Antwort bekommen würde.
Stattdessen fasste er einen anderen Entschluss.
Der Dämonenjäger nahm sich vor, Thaagu zu hypnotisieren. Es war schwer einzuschätzen, ob dieses Vorhaben bei einem Schamanen Erfolg haben würde. Thaagu und seinesgleichen versetzten sich dermaßen oft selbst in Trance, dass ein Schamane auch in diesem Zustand vermutlich nicht aus dem Nähkästchen plaudern würde.
In der Jurte gab es eine kleine Feuerstelle. Thaagu blies in die noch schwelende Glut und legte etwas Reisig nach.
»Ich habe schon vor einiger Zeit gespürt, dass etwas nicht in Ordnung ist«, begann der Schamane. »Also habe ich den Wald beobachtet und auf das Lied der Berge gehört. Ich sprach mit den Geistern und flehte die Götter um Hilfe an. Sie alle kündigten mir die Katastrophen des heutigen Morgens an.«
»Kennst du den Ursprung jenes Feuers, das vom Himmel gefallen ist?«, fragte der Parapsychologe.
»Weißt du das nicht selbst, Zamorra? Du und Oleg Petrow, ihr seid schließlich direkt aus dem Flammenmeer gekommen. Jedenfalls haben die Männer meines Stammes das gesagt.«
»Bei den anderen Tungusen gelten wir als heilig oder übermenschlich. Aber ich will dir gegenüber ehrlich sein, Thaagu. Du hast wahrscheinlich schon gemerkt, dass wir ganz normale Menschen sind.«
Während Zamorra sprach, schaute er dem Alten direkt in die Augen. Das war die Grundvoraussetzung, um ihn hypnotisieren zu können. Doch die Bemühungen prallten zunächst an Thaagu ab.
Der Schamane hielt seine knochige Rechte direkt über das Feuer und deutete mit dem Zeigefinger auf Zamorra. »Du hast Recht, edler Fremder. Deine Aufrichtigkeit ehrt dich. Aber ich habe deine Frage noch nicht beantwortet. Also: Ich kenne die Macht, die hinter den Explosionen und dem Flammenmeer an der Tunguska steht. Es ist die Große Schlange!«
Zamorra stutzte. Diesen Begriff hatte er schon einmal gehört. Ein Sadhu, einer der heiligen Männer Indiens, hatte die Große Schlange einmal erwähnt. Es sollte sich um einen Dämon handeln, der noch weitaus mächtiger war als Ssacah, der Kobra-Dämon. Aber mehr wusste Zamorra bisher nicht über diese Große Schlange. Doch das würde sich nun vielleicht ändern. Vorausgesetzt, dass Thaagu überhaupt von demselben schwarzmagischen Wesen sprach wie es dieser Sadhu in Indien getan hatte…
Zamorra hakte nach, weil er momentan nichts anderes tun konnte. Seine Hypnotisierversuche schlugen weiterhin fehl. Der Schamane war, vielleicht auf Grund geheimer Kräfte, gegen diese Fähigkeit des Dämonenjägers immun. Zamorra war darauf angewiesen, zunächst nur den Worten des sibirischen Zauberers zu lauschen.
»Die Große Schlange also.« Zamorra nickte wissend. »Darf ich fragen, woher du das so genau weißt, Thaagu?«
»Selbstverständlich, o Zamorra. Es ist mir eine Ehre, mein Wissen mit euch teilen zu können.« Der Schamane vollführte mit beiden Händen einige seltsame Gesten über dem Feuer. Es war, als wollte er bestimmte Figuren oder Umrisse mit den Händen in die Luft malen. Vielleicht war das auch wirklich so. »Als ich einst eingeweiht wurde in die Geheimnisse von Leben und Tod, da habe ich gelernt, auch aus den kleinsten Hinweisen in meiner Umgebung Rückschlüsse auf das Ganze, die Harmonie aller Dinge, zu ziehen.«
»Was soll das heißen?«, meldete sich plötzlich wieder Oleg zu Wort.
Zamorra hoffte, dass der junge Anarchist den Schamanen nicht kränken würde mit seinem ewigen Misstrauen. Aber Thaagu wandte sich ihm bereitwillig zu.
»Das bedeutet beispielsweise, o Oleg Petrow, dass die Spur eines Wildkaninchens im Schnee etwas aussagt über die Geburt eines Kindes in der Jurte meines Nachbarn. Alle Dinge sind miteinander verknüpft. Aber es ist nur wenigen gegeben, diese Zusammenhänge auch zu sehen.«
»Klingt für mich wie kompletter Schwachsinn!«
Zamorra bereute es, diesen Grünschnabel nicht sicherheitshalber geknebelt zu haben. Er befürchtete, dass bei dem alten Thaagu die Klappe fallen und er sich beleidigt zurückziehen würde. Doch das war nicht so.
Stattdessen erschien ein spöttisches Lächeln auf den schmalen Lippen des Tungusen.
»Ich kann es dir beweisen, Oleg Petrow.«
»Da bin ich ja mal gespannt!«
Der Anarchist lachte abfällig. Aber Thaagu fuhr ungerührt fort. Wieder vollführte er einige groteske Handbewegungen über dem Feuer. Es war ein Wunder, dass er sich noch nicht die Hände verbrannt
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