0757 - Das Reich der Großen Schlange
hatte.
»Ich sehe beispielsweise den Zustand deines Haares, Oleg Petrow. Dein Haar ist nicht glänzend, aber auch nicht stumpf. Doch das spielt keine Rolle. Das sind Dinge, die jedem Beobachter auffallen. Aber nur ich als Schamane kann aus dem Zustand deines Haares schlussfolgern, dass du noch nie bei einer Frau gelegen hast!«
Den letzten Halbsatz schrie Thaagu dem jungen Anarchisten förmlich ins Gesicht. Oleg wirkte geschockt. Selbst bei der trüben Beleuchtung, die in der Jurte herrschte, konnte man sehen, dass er über und über errötete.
Zamorra hatte mit seinem jungen Begleiter bisher noch nicht über Sex gesprochen. Aber es war offensichtlich, dass der alte Schamane hundertprozentig Recht hatte. Oleg war eine männliche Jungfrau. Und offenbar schämte er sich dieser Tatsache so sehr, dass er nun erst einmal verstummte.
Hoffentlich für längere Zeit, dachte Zamorra, dem die rechthaberische und anmaßende Art seines Begleiters zunehmend auf den Wecker ging.
»Du wolltest uns von der Großen Schlange erzählen, Thaagu«, erinnerte der Dämonenjäger den Schamanen.
Plötzlich änderte sich die Atmosphäre in der Jurte. Und Zamorra begriff, dass Oleg und er in eine Falle getappt waren. Schwere Dämpfe machten das Atmen zur Qual. Erst jetzt begriff der Dämonenjäger, dass Thaagu offenbar immer wieder ein seltsames Pulver ins Feuer gestreut hatte.
Daher seine merkwürdigen Handbewegungen über den Flammen!
Diese Erkenntnis kam allerdings zu spät.
Zamorra wollte aus seiner sitzenden Stellung hochfedern, doch die Dämpfe hatten eine betäubende Wirkung. Schwer wie Blei fühlten sich seine Arme und Beine an.
Oleg hatte offenbar ebenfalls gewittert, dass etwas faul war. Auch der junge Anarchist versuchte vergeblich, sich aus seiner kauernden Stellung zu erheben.
»Ihr Dummköpfe!«, kreischte Thaagu. »Ihr wollt etwas über die Große Schlange wissen? Die Große Schlange ist schon da!«
Der Schamane sprang in die Flammen des kleinen Holzfeuers. Die Jurte stürzte zusammen wie ein Kartenhaus. Die ganze Welt um die Nomadenbehausung herum schien sich aufzulösen.
Zamorra hatte dergleichen schon öfter erlebt und nahm es recht gelassen hin. Er war eben unaufmerksam gewesen und musste nun die Folgen ausbaden.
Aber Oleg hatte noch nie erlebt, wie die Welt über ihm zusammenstürzte! Entsetzt kreischend starrte der Jüngling auf die durcheinander wirbelnden Trümmer, die Tungusen, die Haustiere, die Bäume, Berge und den Himmel. Sie alle vermengten sich zu einem wirbelnden Chaos. Es gab kein Oben und Unten mehr, keine Himmelsrichtungen oder sonstige Orientierung.
Als Allererstes verschwand das Feuer, in das Thaagu gesprungen war. Dort, wo die Feuerstelle gewesen war, entstand ein starker Sog.
Zamorra und Oleg hatten dieser Kraft nichts entgegenzusetzen. Wie zwei leblose Puppen stürzten sie in jene andere Welt, die sich im Inneren des Feuers auftat…
***
Wieder einmal verfluchte Nicole Duval die Damenmode des 19. Jahrhunderts.
Es war überhaupt kein Vergnügen, in einem bodenlangen Kleid nebst Korsett und unzähligen Unterröcken durch die sibirischen Bergwälder stiefeln zu müssen. Die Französin warf Lena Kuslowa, die tungusische Männerkleidung trug, einen neidvollen Blick nach dem anderen zu.
Nicole stolperte fluchend über eine Baumwurzel. Ihr Rocksaum hatte sich wieder einmal verhakt.
»Verdammter Seidenfummel! Was gäbe ich für eine Jeans und ein Paar Schaftstiefel!«
Lenas Gesicht nahm einen fragenden Ausdruck an. »Was ist denn eine Jeans?«
Nicole musste sich vergegenwärtigen, dass im Jahre 1908 dieses Kleidungsstück noch nicht seinen Siegeszug um die ganze Welt angetreten hatte.
»Jeans sind Hosen aus grobem blauen Denimstoff, die ursprünglich aus Amerika kommen. Früher wurden sie meist von Cowboys und anderen Arbeitern getragen. Jedenfalls sind sie extrem strapazierfähig und sehen auch noch gut aus.«
»Aus Amerika… du kommst ziemlich viel herum auf der Welt, nicht wahr, Nicole?«
»Das kann man sagen.«
»Ich bin zufrieden, dass ich einen Ort gefunden habe, wo mein Mann mich nicht finden kann. Dieser Teil Sibiriens ist extrem dünn besiedelt. Zwischen hier und der chinesischen Grenze gibt es nur ein paar Tungusenstämme. Ich fürchte allerdings, dass der Zar nach der Katastrophe heute Morgen Truppen hierher verlegen lässt.«
»Wieso Truppen?«, fragte Nicole.
»Weil man hier einen japanischen Angriff befürchtet! Und das, was wir miterlebt haben, ist einfach zu
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