076 - Der magische Schrumpfkopf
Scheinwerferlicht erkannte er seinen Sohn Dieter.
Lord stieg aus, packte Dieter am Arm und zog ihn zum Wagen.
„Los, steig ein!“
Der Junge gehorchte. Lord gab Gas. Er beschloß, nicht zur Villa zu fahren und auch die Dorfpolizei aus dem Spiel zu lassen. Er wollte Dieter zur größeren Polizeistation der nächsten Stadt bringen, da ihm der Zwei-Mann-Polizeiposten des Dorfes im Ernstfall keinen Schutz gewähren konnte.
Sie fuhren aus dem Dorf, die Straße entlang durch die Felder und durch den Wald.
Plötzlich fragte Dieter Lord mit ganz klarer Stimme: „Vater, was ist denn los? Wie komme ich hierher? Wohin fahren wir denn und was ist mit Mutters Beerdigung? War die etwa schon?“
Lord trat mitten im Wald scharf auf die Bremse. Der Wagen schlingerte, kam zum Stehen. Der Fabrikant schaltete die Innenbeleuchtung an, musterte seinen Sohn. Dieter sah ihn genauso an wie früher, ehe er nach dem Zugunglück und der Operation zum Schwachsinnigen geworden war. Er lächelte sogar.
„Junge, weißt du denn nicht?“ fragte Lord. Er hielt inne. „Woran erinnerst du dich denn?“
„Na, an deinen Anruf im Internat. Mein Mathematiklehrer fuhr mich nach Luzern zum Bahnhof. Dort stieg ich in den Alpen-Expreß. Ich lag im Schlafwagenabteil und konnte nicht schlafen. Irgendwann gab es dann einen Ruck. Ich flog durch die Luft, schlug mir den Kopf an. An den Schmerz erinnere ich mich noch, dann war alles dunkel. Seither weiß ich nichts mehr. Sag, war ich lange bewußtlos?“
Frederik Lord vergrub das Gesicht in den Händen. Er erfaßte die ganze Infamie Araquuis. Sein Sohn war zweifellos wieder völlig normal, erinnerte sich an nichts mehr. Aber ohne Zweifel würde Dieter Lord wegen der Brandstiftung als gemeingefährlicher Irrer zumindest für die nächsten Jahre in einer geschlossenen Anstalt verschwinden.
„Junge“, sagte Frederik Lord. „Du warst fast sechs Monate bewußtseinsgestört.“
Wie Frederik Lord vermutet hatte, wurde sein Sohn in eine geschlossene Anstalt eingewiesen. Lord besuchte ihn ein paarmal. Er erschrak über die Veränderung, die mit Dieter vor sich ging. Seit der Junge wußte, was er getan hatte, verfiel er von Tag zu Tag mehr.
Der Aufenthalt unter Geistesgestörten, die Behandlungsmethoden und Therapien der Ärzte, die sein Leiden ergründen wollten, taten ein übriges. Lord mußte erkennen, daß sein Sohn in dieser Anstalt mit der Zeit tatsächlich den Verstand verlieren würde.
Lord versuchte alles, um seinem Sohn zu helfen, bezahlte Ärzte, Anwälte – vergebens. Sein Sohn war als gemeingefährlicher Irrer, als geistesgestörter Mörder, abgestempelt Zeit seines Lebens.
Lord mußte seine Fabrik schließen. Die Arbeiter liefen ihm weg, die Angestellten kündigten. Im Dorf konnte der Fabrikant sich nicht mehr sehen lassen. Er lebte wie ein Geächteter, einsam und allein. Nur Dr. Gaby Thomas, die Ärztin, und sein früherer Betriebsleiter Otmar Röder besuchten ihn von Zeit zu Zeit noch.
„Verkaufen Sie das Unternehmen“, rieten sie ihm. „Und gehen Sie woandershin. Hier hat es keinen Zweck mehr für Sie.“
Lord hörte sich die Vorschläge und Reden an, nickte wohl auch, aber er tat nichts. Die Firmen, die an seinem Unternehmen interessiert waren, drängten ihn nicht zum Abschluß der Verhandlungen. Je mehr Zeit verging, um so mehr fiel die Firma Lord im Preis.
Otmar Röder hatte es als seine letzte Aufgabe innerhalb der Firma angesehen, alle Verbindlichkeiten zu regeln, Lieferverträge zu lösen und die Firma vorübergehend stillzulegen. So konnte ein Bankrott vermieden werden.
Lord begann, in den Bars der Umgebung Ablenkung zu suchen. Er trank reichlich, wenn auch nicht so desperat wie in den Monaten zuvor. Bald wirkte das vorher schmale und energische Gesicht des Fabrikanten gedunsen, sein Körper aufgeschwemmt.
Alpträume begannen ihn wieder zu plagen. Doch diesmal rührten sie nicht von Araquui her. Lord hatte Angst zu sterben. Die Worte Cazadors, daß jeder, der, solange er der Besitzer des Schrumpfkopfs sei, sterbe, auf ewig verloren und verdammt sei, gingen dem Fabrikanten nicht aus dem Kopf. Er hatte aber panische Angst vor dem magischen Schrumpfkopf, dem bösen Fetisch, und er konnte sich nicht dazu aufraffen, etwas zu unternehmen, um ihn loszuwerden.
In einem Stripteaselokal traf Lord eine Bekannte aus früheren Tagen wieder, Stella Jäger. Stella Jäger war eine attraktive, rothaarige Frau Anfang Dreißig. Nach der Scheidung von einem mit Lord
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