0766 - Das Grauen von Grainau
lächelte in die Kamera. Man sah dieser Frau an, daß sie das Leben liebte.
In seinen rotweißen Bermudas wirkte Sidney etwas lächerlich. Wahrscheinlich auch deshalb, weil er ziemlich gebückt stand und sich auf einen Golfschläger stützte. Davies hatte blondes Haar, das er glatt nach hinten gekämmt trug. Sein Gesicht war breit, es wirkte knochig. Auf der Oberlippe wuchs ein blonder Bart.. Ein wenig erinnerte er mich an den Filmstar Nick Nolte.
Mario stand zwischen seinen Eltern. Seine Haut erinnerte mich an Milchschokolade. Den Schirm der Baseballmütze hatte er in die Höhe geklappt. Er lächelte, doch die Augen lächelten nicht mit.
Ich bat Sir James um eine Lupe, die ich auch bekam. Dann schaute ich mir das Gesicht des Jungen genauer an.
Ja, es waren die Augen, die mich auch jetzt störten. Nicht sie selbst, sondern mehr ihr Blick. In ihnen lag der Blick eines Erwachsenen. Die Augen wirkten so, als hätte er in seinem jungen Leben schon alles gesehen. Nichts Menschliches war ihm mehr fremd.
Ich schob das Bild wieder zurück und legte die Lupe daneben. »Das ist allerhand«, sagte ich.
»Was denn?«
»Ich glaube Ihnen, Sir. Ich habe mich auf die Augen des Jungen konzentriert. Sie sehen aus, als hätten sie bereits alle Schlechtigkeiten der Welt entdeckt.«
»Vielleicht auch die der Toten.«
»Möglich.«
»Was wollen Sie tun, wenn…?« Er winkte ab. »Ach, es hat keinen Sinn. Sie müssen sich jeweils auf die Situationen einstellen. Ein Zimmer im Hotel ist für Sie reserviert. Sie werden nicht weit von der Suite der Familie entfernt wohnen.«
Für mich war längst klar, daß ich fliegen würde, hatte aber noch einige Fragen an den Chef. »Sagen Sie, Sir, wenn das alles zutrifft, was man von Mario annimmt, dann ist das nicht grundlos so gewesen. Es muß etwas geben, das ihn zu dem gemacht hatte, was er heute ist. Es kann nicht jemand hingehen und erzählen, daß er mit den Leichen spricht. Das ist unmöglich.«
»Glaube ich auch.«
»Hat man Ihnen etwas über den Jungen mitgeteilt? Über seine Herkunft, über den Grund seines ausgefallenen Hobbys? Es wird nicht jemand geboren, dem plötzlich einfällt, die Toten zu lieben. Das widerspricht allen Erfahrungen.«
»So dachte ich auch.«
»Aber…«
Sir James schaute seiner Hand zu, die Figuren auf die Schreibtischplatte malte. »Man konnte oder wollte mir keine Informationen geben. Jedenfalls ist man in den Staaten nicht glücklich darüber, daß die Familie so weit weg ist. Nun ja, man kennt Sie, John, und man hat sich deshalb an mich gewandt, um die Sache zu regeln. Fahren Sie nach Grainau und halten Sie ein Auge auf den Jungen. Wenn Sie ihn im Hotel nicht sehen, werden Sie ihn sicherlich auf dem Friedhof finden.«
Ich verzog den Mund. »Ja, das denke ich auch. Wenn es da nicht noch ein Problem gäbe. Ich muß damit rechnen, daß die Mafia dank ihrer ausgezeichneten Beziehungen ebenfalls herausgefunden hat, wo sich die Familie Davies aufhält.«
»Auch, John.«
»Und damit geraten all die Personen in die Schußlinie, die sich im Dunstkreis der Familie aufhalten.«
»Darauf sollten Sie achten.«
Ich war nicht begeistert. Vor allen Dingen deshalb nicht, daß ich allein fahren sollte und Suko zu Hause blieb. Das war wieder ein Job, der nicht Fisch und nicht Fleisch war und mich in Lebensgefahr bringen konnte.
Sir James öffnete die Schublade seines Schreibtisches und holte wieder einen Umschlag hervor. Auf ihm schimmerte die Reklame eines Reisebüros.
»Aha, mein Ticket.«
»Richtig. Fliegen Sie bis München und nehmen Sie sich dort einen Leihwagen. Es gibt eine Autobahn bis Garmisch. Staus müssen Sie einkalkulieren.«
»Das kenne ich von London.« Ich nahm das Ticket entgegen und setzte mich nicht mehr hin. »Wie ich Sie kenne, fliege ich morgen früh.«
»Mit der ersten Maschine.«
»Dann ist der Abend gelaufen.«
Hinter den dicken Brillengläsern weiteten sich die Augen meines Chefs. »Hatten Sie denn etwas Bestimmtes vor?«
»Zwei oder drei Bierchen hätten mir schon gutgetan. Macht nichts, auch in Bayern soll es prima Bier geben. Und da in Bayern Bier wohl kein Alkohol ist, kann ich mir hin und wieder einen Schluck aus dem großen Glas genehmigen.«
»Schön, daß Sie noch Humor haben, John.«
»Nur so kann man den Job ertragen.« Ich winkte Sir James zu und stand wenig später vor der Tür.
Wieder einmal hatte es mich erwischt. Ein Job ohne Suko. Dafür mit vielen Andeutungen beladen, und ich dachte nicht so sehr an den Jungen,
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