0766 - Das Grauen von Grainau
machen.
Der Gedanke daran störte ihn, schreckte ihn aber nicht so ab, als daß er seinen Plan fallengelassen hätte. Bis zu seinem Ziel hatte er es nicht mehr weit. Im Licht der Lampe hätte er die Gräber schon sehen können, doch darauf verzichtete er. Der Junge kam auch im Dunkeln sehr gut zurecht. Zudem stand der Mond am Himmel wie eine einsame Laterne und schaute auf die Welt nieder.
Der Weg endete an der seitlichen Grenze des Friedhofs, die von einer dichten Strauchreihe gebildet wurde. Es war noch etwas Platz gelassen worden für neue Gräber, doch das interessierte Mario Davies nicht.
Er wandte sich nach links.
Es gab hier auch keine Mauer mehr, die ihn gestört hätte. Nur einen leicht ansteigenden Hang, aus dem an einer bestimmten Stelle drei Grabsteine hervorragten.
Sie unterschieden sich von den übrigen. Zunächst einmal waren sie sehr alt, das traf auf andere auch zu. Nur wurden diese von den Hinterbliebenen gepflegt, bei diesen drei Gräbern hatte man es bewußt nicht getan.
In der Erde lagen auch keine Einheimischen, sondern Fremde, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg hier als Besatzungsmacht aufgetreten waren.
Auf den ersten Blick sahen die Grabsteine aus, als würden sie nebeneinander stehen. Das stimmte nicht. Ein Grabstein, der höchste, markierte praktisch den Fixpunkt, die beiden anderen erhoben sich weiter nach hinten versetzt aus dem Boden, der hier von Wildkräutern überwuchert war. Der Junge machte sich an den leichten Aufstieg. Auf dem feuchtem Gras wäre er beinahe abgerutscht, doch er hatte noch mal Glück gehabt.
Er lächelte. Die Leuchter stellte er neben sich auf den Boden und legte eine kleine Pause ein, da er zunächst einmal zu Atem kommen mußte. In den letzten Minuten hatte er sich schon angestrengt, zudem waren die Kerzenständer ziemlich schwer gewesen.
Auf sie kam es an.
Bevor sich Mario um sie kümmerte, betrachtete er die drei Grabsteine noch genauer. Die Namen an ihren Frontseiten waren nicht mehr zu entziffern. Im Laufe der Zeit hatte sich Moos auf dem Gestein gebildet und alles überwuchert. Zudem kam es ihm nicht auf die Namen an, sondern nur auf die Toten.
Der Junge leckte über seine Lippen. Es war komisch, aber er spürte den Geschmack von Erde. Mario lächelte. Er stand an der hinteren Seite des Grabes, hielt sich am Stein fest und zog sich herum.
Auf dem Grab blieb er stehen.
Eine einsame Gestalt, die sich jedoch nicht einmal so fühlte, denn Mario spürte sehr genau, daß er nicht allein war. Unter ihm tat sich etwas, dort lag eine Leiche, die aber keine war, das wußte er sehr genau, auch wenn die Menschen anderer Ansicht waren.
Er hockte sich nieder. Seine flachen Hände klopften die Umrisse der Grabstätte ab. Hier stand keine Blume, ein Weihwasserbecken gab es erst recht nicht, und auch mit einem Bild konnte dieses Grab nicht aufwarten.
Er sah nur den Stein, der im Mondlicht eine grünliche Farbe angenommen hatte. Das lag auch an der Moosschicht, die ihn wie ein enger Mantel bedeckte.
Wieder klopfte er mit den flachen Handflächen. Er hielt dabei einen bestimmten Rhythmus ein, unterbrach seine Tätigkeit für einige Sekunden und lauschte.
Keine Reaktion aus der Tiefe. Unmutsfalten bildeten sich auf seiner Stirn. Mario hatte damit gerechnet, daß sich etwas rühren würde. Es war nicht der Fall gewesen. Mit der linken Hand strich er durch sein Haar. Er war etwas verunsichert. Sollte er alles falsch gemacht haben? War diese Nacht doch nicht die richtige gewesen?
Das konnte und wollte er sich nicht vorstellen. Diese Gräber waren schon richtig, denn die Vergangenheit konnte einfach nicht lügen. Er untersuchte auch die nächsten beiden, wieder ohne Erfolg.
Dann richtete er sich auf.
Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß die Zeit günstig war. Mitternacht lag inzwischen fünf Minuten zurück. Es war die erste Stunde des nächsten Tages, wo alle Probleme der Menschen zunächst in den Hintergrund geschoben wurden. Sie gehörte den unheimlichen Mächten, den geheimnisvollen Geistern und Naturkräften, aber auch den Toten. Das wußten nur wenige Menschen, und Mario gehörte dazu.
Er ging dorthin, wo er die drei Leuchter zurückgelassen hatte. Der Mond war mittlerweile weitergewandert. Noch immer stand er frei am Himmel und schielte mit seinem bleichgelben Glotzauge auf den einsamen Bergfriedhof von Grainau nieder.
Den Gedanken an einen Verfolger hatte Mario Davies aufgegeben. Er glaubte nicht daran, daß er beobachtet worden war, sonst hätte
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