0766 - Das Grauen von Grainau
Hotel in Besitz genommen und darin ihre Soldaten untergebracht. Erst nach Jahren haben sie es wieder zurückgegeben. Daran erinnerten sie sich wieder, als es darum ging, einen relativ sicheren Platz für die Familie Davies zu finden.«
»Sie sagten einen relativ sicheren, Sir. Garantieren können Sie für die Sicherheit nicht?«
»Nein.«
»Wird die Familie denn beschützt?«
Er schüttelte den Kopf. »Das hat man nicht getan. Man wollte eben kein Aufsehen erregen. Die Davies sollten im Hotel leben wie die anderen Gäste auch. Sie sollten Ausflüge machen, im See schwimmen, mit Booten fahren, auf die Zugspitze klettern… Die herrliche Landschaft sollte ihnen ein Gefühl der Sicherheit geben.«
Ich grinste. »Sie verstehen es, mir den Fall schmackhaft zu machen. Nur weiß ich bis jetzt noch nicht, was ich in dieser Gegend soll. Ein Urlaub ist es wohl nicht.«
»Das stimmt.«
»Worum geht es dann?«
»Um den Jungen.«
»Mario Davies?«
»Ja, denn er ist der große Unbekannte in der Rechnung. Mario ist ein außergewöhnliches Kind. Für sein Alter viel zu reif, aber das kann man hinnehmen. Da gibt es viele andere, die ebenso sind. Er hat allerdings ein Problem, das ihn von den meisten in seinem Alter unterscheidet. Es treibt ihn auf Friedhöfe. Ich will damit sagen, daß er die Toten liebt. Experten sind sogar der Meinung, daß er es schafft, mit ihnen Verbindung aufzunehmen. Er kann sie verstehen.«
»Woher wissen die Experten das?«
»Angeblich haben sie ihn untersucht.«
Was mir Sir James da gesagt hatte, gefiel mir gar nicht. Und ich erinnerte mich an einen Fall, mit dem ich praktisch in meinen Job eingestiegen war. Damals hatte ich den Hexer Orgow und sein Medium Lara gejagt. Dieses Medium war in der Lage gewesen, mit den Leichen zu kommunizieren.
Sie konnten sich an die Gräber stellen und mit ihnen sprechen, wobei es aber nicht geblieben war, denn die Toten waren als lebende Leichen aus den Gräbern gestiegen und hatten fürchterliche Greueltaten vollbracht.
»Sie denken an Orgow, John?«
»In der Tat, Sir.«
»Ich auch.«
Ich stand auf, drehte mich um und trat ans Fenster. Kühlere Luft umspielte mich. Ich hoffte, daß die große Hitze endlich ein Ende gefunden hatte. Der Himmel über London sah traurig aus. Er war grau, die Wolken lagen tief. Unter mir rauschte der Verkehr. Als ich mich wieder umdrehte, trank Sir James einen Schluck Wasser.
»Glücklich sehen Sie nicht gerade aus, John.«
»Ich bin es auch nicht.«
»Der Junge ist das große Problem. Vielmehr das zweite Problem, das erste ist die Mafia.«
Ich ging wieder zu meinem Stuhl zurück. Unterwegs fragte ich: »Rechnet man denn damit, daß die Killer die Spur der Familie finden?«
»Wissen Sie, John, das habe ich auch gefragt, aber man wollte mir die Antwort nicht geben. Für die Amerikaner war der Junge das größere Problem. Sie hätten ihn gern im Land behalten. Dann aber hätte Sid Davies nicht ausgesagt. Er wollte seine Familie in der Nähe haben, und so kam Mario mit nach Germany.«
»Wo es auch Friedhöfe gibt.«
Sir James nickte. »In Grainau gibt es einen schönen. Er liegt auf einem kleinen Hügel, direkt hinter der Kirche. Schmucke Grabreihen, die sich am Hang terrassenförmig und auf drei Ebenen verteilen. Für Mario wäre der Friedhof ein idealer Ausflugsort und ein Feld für seine Experimente.«
Ich raufte mir die Haare. »Dann schicken Sie mich also los, um den Jungen zu beschützen?«
Ernst schaute mich der Superintendent an. »Nicht allein beschützen, John. Es könnte sein, daß er sich zu einer Gefahr entwickelt. Denken Sie an das Medium Lara damals. Dann müßten Sie eingreifen. Sie wären dazu gezwungen.«
Ich winkte schnell ab. »Himmel, soweit sind wir noch nicht. Ich denke auch, daß sich die Amerikaner geirrt haben.«
»Möglich. Darauf wetten würde ich nicht. Mario hat sich oft auf Friedhöfen herumgetrieben, und er hat auch zugegeben, daß er die Toten liebt. Er mag sie, aber er mag nicht, daß sie in einer feuchten Friedhofserde liegen.«
»Kann ich zwar nicht nachvollziehen, muß ich aber akzeptieren, Sir. Haben Sie ein Bild von ihm?«
»Ja, und von der ganzen Familie.« Sir James holte das Foto aus einem Schutzumschlag hervor und schob es mir über den Schreibtisch. Es war vergrößert worden und zeigte die Familie auf dem Golfplatz.
Mir fiel Eartha Davies sofort auf, weil sie eine Farbige war. Sie trug Freizeitkleidung, hatte das krause Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und
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