077 - Das Kollektiv
die nur das Mädchen verstand.
Neeki ließ ihr Messer fallen. Ohne ihren tierischen Freund zu beachten, der ihre kleinen Füße leckte und winselnd versuchte sie aufzuhalten, ging das Mädchen los. Den Strand hinunter und ins Wasser hinein.
Hinein in den Tod.
***
»… dass Maddrax kein Leid geschieht und wir bald wieder vereint werden«, beendete Aruula ein spontanes Gebet im Sturm. Aufatmend hob sie den Kopf, lehnte sich zurück und fuhr sich mit dem Handrücken über die schmerzenden Augen, ehe sie ihre Arbeit in der rauchgeschwängerten Hütte fortsetzte.
Die Barbarin hatte Unterschlupf bei Kaajin gefunden, der Witwe des Anführers, die mit Sohn Gjöör'gi und Töchterchen Tosha'a im hinteren Teil des Dorfes lebte - ganz in der Nähe der Flüsterfelsen, deren Wispern bis in den letzten Winkel der Behausung zu vernehmen war. Ab und an mischte sich das klagende Bellen eines Streuners darunter. Es schien vom Strand zu kommen, und Aruula fragte sich, wie es dem Hund und seiner kleinen Herrin dort ergehen mochte.
Schweigend rückte sie eine flache hölzerne Schale zurecht und nahm das Bündel halb gerupfter Kräuterstängel wieder zur Hand. Es war früher Nachmittag.
Der Sturm hatte sich an der Küste festgesetzt, heulte bedrohlich durchs Dorf und ließ die Welt in strömendem Regen versinken. Diesseits der geflochtenen Schilfplatte, die den Hütteneingang sicherte, war es eng und dunkel; es roch penetrant nach feuchtem Holz, nach Fellen, Fisch und Urin.
Aber wenigstens hatte man ein Dach über dem Kopf und war vor der kalten Nässe geschützt.
Gjöör'gi und seine Mutter hatten offensichtlich Trauerkleidung angelegt: ein unbequemes, ärmel- und schmuckloses Hemd aus einer rauen, aber extrem haltbaren Pflanzenfaser, die auch zum Knüpfen der Fangnetze verwendet wurde. Um Ya'shiraa - die Meeresgöttin - gnädig zu stimmen, würden sie bis zum nächsten Neumond keinen Fisch verzehren, auf dass der Tote seinen Frieden fand und nicht in alle Ewigkeit als Windstoß auf dem Meer herum irren musste. So zumindest lautete Aruulas Interpretation der Zeichen und Gesten, die Kaajins geschluchzten Vortrag begleitet hatten. Sie kam damit den Tatsachen sehr nahe.
»Dai! Daü«, jauchzte eine helle Stimme. Die Barbarin sah hin und gleich wieder weg. Während Gjöör'gi das Feuer schürte und seine Mutter - in Trauer verstummt - mit der Zubereitung einer Füllung für die Abendmahlzeit beschäftigt war, was einige Zeit in Anspruch nehmen würde, blieb das Kleinkind sich selbst überlassen. Zahnlos, sabbernd und still vergnügt krabbelte es auf allen Sechsen den fellbedeckten Sandboden entlang.
Tosha'a war noch viel zu jung, um den Tod seines Vaters zu begreifen - ihre einzige Sorge galt dem Erwischen einer igelgroßen braunen Pelzkugel, die sie begeistert mit der gezahnte Riesenmuschel ihres Bruders bearbeitete.
Die Kugel war ein Baa'i - das degenerierte Überbleibsel wilder russischer Braunbären. Linkisch wackelte es auf einwärts gestellten Pfoten vor seiner Verfolgerin her, immer um die Feuerstelle herum. Blut tropfte ihm von der Nase, und es plärrte unentwegt.
Aruulas Blick verfinsterte sich, als der kleine Bär wie schutzsuchend um ihre angewinkelten Beine strich. Das Kind strahlte sie an und tappste hinter ihm her. Erneut schlug es zu, quer über den Rücken des Baa'i und so tolpatschig, dass die scharfen Muschelränder nur knapp den Fuß der Barbarin verfehlten.
Hastig zog ihn Aruula beiseite, senkte den Kopf über ihre Krauter und riss die Blätter ab, dass es krachte.
Sie war nicht zimperlich im Umgang mit Tieren und nahm auch keinen Anstoß daran, dass Kinder lebendes Spielzeug grob behandelten. Aber was dem Baa'i widerfuhr, erschien ihr sinnlos und grausam und weckte ihren Zorn.
Unterdessen robbte Tosha'a an den Steinen der Feuerstelle entlang auf ihre Mutter Kaajin zu, die Aruula gegenüber saß, als das vergnügte Gebrabbel jäh in Weinen umschlug. Der kleine Quälgeist hatte sich die Zehen gestoßen.
Geschieht dir Recht! dachte Aruula grimmig. Mit zitterndem Kinn und durch dicke Tränen hindurch schaute Tosha'a von einem zum anderen, ließ sich - als niemand etwas unternahm - voller Empörung auf den Hintern plumpsen und holte tief Luft.
Das Gebrüll war markerschütternd.
Es brachte den Baa'i dazu, sich einzurollen und laut zu blöken. Genervt verdrehte Aruula die Augen. Warum kümmerte sich denn keiner um das Kind?
Schließlich fand sie eine Antwort darauf: Es lag offenbar an den beweglichen
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