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077 - Das Kollektiv

077 - Das Kollektiv

Titel: 077 - Das Kollektiv Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Seidel
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los mit ihr? Er hatte ihr nichts getan.
    Just in dem Moment erreichte seine Mutter den Platz. Li'issa wähnte ihren Sohn in Bedrängnis und packte energisch mit an.
    »Nein! Nein! Tu ihr nicht weh!«, rief Dushkiin.
    »Was will sie von dir?«, keuchte die Heilerin aufgebracht.
    »Gar nichts. Ich soll sie zu Semjo'on bringen!«
    Beim Klang dieses Namens warf die Barbarin den Kopf hoch. Dushkiin glaubte ein Flackern in ihren Augen zu sehen und begriff: Sie fürchtete sich vor dem Ältesten!
    Aber natürlich! Jeder fürchtete Semjo'on! Schon wollte er loslassen, als der Dorfälteste aus der Hütte trat, schweigend und auf seinen Stock gestützt, gefolgt von Wiko'o, der Aruulas Ohrfeige längst vergessen hatte und noch immer von der Weichheit ihrer Brüste schwärmte.
    Die Barbarin bemühte sich so verzweifelt wie nutzlos um Verständigung.
    Sie rief Worte in ihrer Sprache, die niemand sonst verstand, und wand sich in seinem und Li'issas Griff. Er spürte, dass sie kurz davor stand, durchzudrehen. War es da ratsam, sie freizulassen? Dushkiin zögerte - eine Sekunde zu lange…
    »Was wollt ihr von mir? Lasst mich los - ich bin nicht euer Feind!«, rief Aruula. Sie mochte nicht gegen Dushkiin und die Heilerin kämpfen, aber ließen sie ihr eine Wahl?
    Zorn überkam die Barbarin; wilder, unbändiger Zorn auf alles und jeden.
    Es war einfach zu viel: das Unwetter, ihre Entführung, den Angriff der Kinder, das ungewisse Schicksal von Maddrax und den Gefährten…
    Etwas kochte in Aruula hoch; ihre Gedanken und Gefühle überschlugen sich. Sie spannte die Muskeln an, bereit, zurückzuschlagen, sich zu befreien.
    Dass Semjo'on plötzlich erstarrte, bemerkte sie nicht. Auch nicht, dass vor den umliegenden Hütten Bewegung entstand.
    Ruckartig riss Aruula ihre Arme herunter, rammte Dushkiin das Knie in den Unterleib und wirbelte herum. Dadurch wurde Li'issa beiseite geschleudert, Aruula holte aus und schmetterte Wiko'o die Hand ins Gesicht, dass der Junge zu Boden ging. Blut flog aus seiner Nase. Semjo'on sah es und schwang den Stock.
    Die Barbarin sprang zurück, und sein Schlag ging ins Leere. Dieser verdammte Alte! Er war es doch, der sie gefangennehmen wollte, oder? Haarscharf sauste das knorrige Holz über ihren Kopf hinweg, als Aruula geduckt nach vorn hechtete.
    Sie erreichte Semjo'on nicht. Jemand riss sie zurück. Und während sie noch glaubte, das Brüllen der Fischer gelte ihr, liefen die Männer vorbei - und griffen den Dorfältesten an!
    Heilloses Chaos entstand, Fäuste flogen, Stimmen schwirrten durcheinander, und selbst der Sturm wollte offenbar mitmischen. Eine Salve gleißender Blitze flammte am Himmel und zog ein Stakkato von Donner schlagen nach sich, die die Erde spürbar zittern ließen.
    Als sie verhallten, war Aruula fort.
    »Seid ihr von Sinnen? Benutzt euren Verstand, Männer - ich bin es!«, rief Semjo'on in Todesnot, als zwei der Fischer mit Eisenhaken auf ihn losgingen.
    Und plötzlich änderte sich etwas.
    Semjo'on zwinkerte ein paar Mal, weil er das Gefühl hatte, das Bild vor seinen Augen habe sich verändert, sei irgendwie… klarer geworden.
    Aber es war nicht das Bild. Es war etwas, das von innen kam. Etwas, das normalerweise sorgsam gehütet wird und keinem zugänglich ist: fremde Gedanken!
    Was tue ich hier ? hörte Semjo'on die Stimme eines Rriba'low in seinem Kopf. Le'ev dachte: Bei Ya'shüra! Es ist genau wie auf dem Boot! , und Dushkiin fragte sich: Warum werden wir so wütend - ohne jeden Grund?
    Es gibt einen Grund! antwortete ihm Semjo'on - und sandte eine Erkenntnis hinterher. Der Dorfälteste brauchte sich nicht zu bemühen, sie in Worte zu fassen - die Fischfänger »sahen«, was er vor seinem geistigen Auge sah: die Fremde, die das ganze Dorf in Aufruhr versetzte; eine Kriegerin mit der Fähigkeit, ihre Aggressionen auf andere zu übertragen - und die Boten der Götter, die Aruula hergebracht hatten, um…
    ja, warum eigentlich? Grimmig wandte sich Semjo'on an Dushkiin, zeigte mit dem Finger hinaus in den Regen und befahl: Finde sie!
    Der junge Mann nickte eine Zustimmung und rannte los. Die anderen beruhigten sich; das Gedankenkollektiv zerfiel.
    Stattdessen wurde Semjo'on umringt und mit Fragen überhäuft, auf die keine Antwort kam.
    Der Dorfälteste schien in eine Art Trance gefallen zu sein! Wortlos, mit starrer Miene und einem Blick, der in eine Ferne jenseits von Zeit und Raum gerichtet war, ging der alte Mann davon, Richtung Strand. Erst folgten ihm die Fischer noch und

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