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077 - Das Kollektiv

077 - Das Kollektiv

Titel: 077 - Das Kollektiv Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Seidel
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ohne vom Platz geschickt zu werden!
    Als wollte eine aufgebrachte Gottheit Aruulas Worte bestätigen, fuhren in rascher Folge drei Blitze über der Bucht nieder. Einer davon traf den sturmgepeitschen Waldbewuchs der Inseln, doch das Feuer war im Regen so schnell wieder gelöscht, wie es entstand.
    Schwarze Rauchwolken wehten mit hohem Tempo über das Dorf hinweg wie böse Geister. Markerschütternder Donner folgte. Aruula riss ihre Hände vor die Ohren. Prompt kam der Streuner angehechelt. Doch bevor er die Barbarin erneut bespringen konnte, bückte sie sich, nahm einen Stein und warf ihn nach dem lästigen Tier. Leider fiel der Wurf etwas zu heftig aus - der faustgroße Stein schlug hörbar gegen die Rippen und der Streuner ging heulend zu Boden.
    Der Anblick ließ Neeki erbleichen.
    Die Fünfjährige hatte zwei Winter zuvor ihre Eltern verloren - und mit ihnen ihre Fähigkeit zu sprechen -, und nun tauchten urplötzlich all die schrecklichen Bilder auf, die ihr die Stimme genommen hatten und des Nachts um ihr Lager spukten: der Vater auf dem Handelspfad, schwer beladen mit Tauschwaren; die Mutter, erst so fröhlich, die ihre kleine Tochter hastig im Gebüsch verbarg und ihr befahl, keinen Ton von sich zu geben. Dunkle Gestalten mit nur zwei Armen, offenem Haar und Streifenbemalung am Körper, die den Vater niederschlugen, um seine Waren zu stehlen.
    Der wilde Mann, der die Mutter vom Weg zerrte. Ihre Schreie. Dann die Stille. Und das Blut.
    Das viele Blut.
    »Ich sehe es auch!«, wisperte ein kleiner Junge atemlos. Alle Augen richteten sich auf die Barbarin - große Kinderaugen voller Angst. Gehörte sie etwa zu den Räubern? War sie hergekommen, um jetzt auch die anderen Eltern zu töten?
    Aruula, die den wahren Beweggrund der Kinder nicht kannte, sah ihre verschreckten Gesichter und fühlte sich schuldig - selbst dem Streuner gegenüber, der sich über die Flanken leckte.
    Wie um Entschuldigung bittend breitete Aruula ihre Arme aus und ging auf die Kleinen zu.
    »Hört mal«, setzte sie an - und brach gleich wieder ab. Die Kinder wichen vor ihr zurück. Eines nach dem anderen gingen sie rückwärts in die Hütte hinein; schweigend und mit seltsam starren Gesichtern. Aruula schoss ein alarmierender Gedanke durch den Kopf, den sie jedoch gleich wieder unwillig verwarf. Es konnte nicht sein! Sie waren zu jung.
    Stimmen wurden laut, und die Barbarin drehte sich um. Die Frauen, die sie kurz zuvor am Dorfrand gesehen hatte, kamen durch den Sturm gelaufen.
    Sie hatten ihre Kleinen entdeckt und wollten sie nach Hause holen. Aruula ging ihnen entgegen, in der vagen Hoffnung, sich vielleicht durch Zeichensprache verständlich zu machen und die Furcht der Kinder zu erklären.
    Dieses Feingefühl sollte ihr das Leben retten.
    Die Frauen waren bis auf wenige Schritte heran, als sie schlagartig stehenblieben, die Arme hochrissen und erschrocken aufschrien - den Blick auf etwas gerichtet, das sich hinter der Barbarin befand.
    Aruula hielt sich nicht damit auf, nachzusehen, was es war. Geschmeidig hechtete die junge Kriegerin beiseite, rollte sich ab und kam wieder hoch - kampfbereit. Aber was sie sah, ließ ihr das Blut gefrieren: Vor ihr standen die Kinder, kalte Entschlossenheit im Gesicht, mit Fischmessern und Eisenstangen bewaffnet. Aruula nahm die Hände herunter.
    »Ihr wollt mich töten, weil ich einen Stein geworfen habe?«, fragte sie fassungslos.
    Was war nur los mit diesen Leuten? Wieso rasteten sie urplötzlich aus, obwohl sie doch dem Anschein nach ein friedliches Volk waren?
    Aruula rührte sich nicht, als die Frauen an ihr vorbei liefen und den Kindern, die mit einem Mal sehr verwirrtdrein schauten, das Waffenarsenal entrissen. Begleitet von der üblichen Schelte erleichterter Mütter zerrten sie die Kleinen eilends fort.
    Nur für Neeki hatte sich kein Abholer gefunden; blass und stumm lehnte das kleine Mädchen am Türrahmen, den Streuner an ihrer Seite und ein Messer in der Hand. Aruula warf ihr einen nachdenklichen Blick zu; dann wandte sie sich ab und folgte den anderen ins Dorf.
    Neeki und der Hund blieben allein zurück. Unvermittelt fuhr das Tier herum, stellte sein Hecheln ein, spitzte die Ohren und äugte wachsam auf die tobende See hinaus, die sich - im Unwetter kaum noch sichtbar - an den Strand warf.
    Jenseits der donnernden, schäumenden Brandung glitten zwei Schatten heran. Ihre Stirnkristalle blitzten im Auf und Ab der Wellen, und es schien, als wollten sie eine Botschaft senden.
    Eine Botschaft,

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