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077 - Das Kollektiv

077 - Das Kollektiv

Titel: 077 - Das Kollektiv Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Seidel
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Anführers zu hart. Yu'uri hatte am Lagerfeuer oft genug in glühenden Farben geschildert, was draußen auf dem Kratersee, gerade noch in Sichtweite der Küste an unheimlichen Dingen zu erleben war: rätselhafte Kreaturen, die mit den Wellen an die Bordwand schwappten und sich nicht selten im Netz verfingen; schaurige Laute, die der Nachtwind aus der Ferne herantrug, leuchtende Wellenkämme und Götterfeuer, das über die Mastspitzen tanzte, ohne sie zu verbrennen.
    Niemand in Yebo'kraad hatte sich je dem Zauber solcher Geschichten entziehen können, und ihr Erzähler genoss hohes Ansehen im Dorf. Da war es nicht verwunderlich, dass alle Kinder davon träumten, Yu'uri auf seinen Fahrten zu begleiten. Selbst die Mädchen, die man für echte Männerarbeit nicht gebrauchen konnte.
    Das Geräusch war verstummt, als er die Strömung erreichte. Nichts hielt sich hier auf, nicht einmal Plankton.
    Trotzdem war etwas zu hören: ein unablässiges, geschäftiges Wispern.
    Laute in einer Sprache, die er nicht verstand. Das Wasser zog mit großer Eile vorbei, und er musste seine schuppigen Flossenbeine in Bewegung halten, um nicht abgetrieben zu werden.
    Der Druck in seinem Körper schmerzte, ließ aber schon nach, Ungeduldig schwenkte er den Kopf und sah nach oben. Etwas schimmerte dort. Ein rundes, rotgoldenes Licht.
    Gjöör'gi wimmerte schwach. Kleine Rinnsale liefen das Geflecht der nassen Zöpfe entlang und tropften auf seine bebende Brust. Fürsorglich wischte Le'ev sie fort.
    »Keine Furcht«, raunte er. »Krahac wird dich nicht holen. Der Totenvogel kann dich hier draußen gar nicht finden.«
    »Er hat Mii'jan auch gefunden«, flüsterte der Junge zurück, und Le'ev schluckte unwillkürlich. Mii'jan, der älteste Sohn des Anführers, war mit dem Jäger des Dorfes am Tag der Wintersonnenwende in die Wälder aufgebrochen - und nie mehr heimgekehrt.
    Yu'uri presste die Lippen zusammen, löste sich mit unwirscher Schulterbewegung aus seinem Fell und warf es dem Jungen über.
    »Zurück ans Ufer!«, befahl er mit rauer Stimme. »Le'ev, du begleitest Gjöör'gi ins Dorf, wir anderen fahren gleich wieder hinaus. Also los! Holt die Netze ein und wendet das Boot! Noch ist Zeit. Wenn wir uns beeilen - und die Götter gnädig sind -, werden wir diesen Fang vielleicht noch…«
    Weiter kam er nicht.
    Le'ev, der vor ihm stand, wurde blass und wies mit zitternden Fingern an Yu'uri vorbei aufs offene Meer.
    »Fjorr«, hauchte er.
    Einen Moment lang glaubte Yu'uri noch, es sei nur ein weiterer Versuch, den Jungen zu erschrecken, und runzelte verärgert die Stirn. Doch als Gjöör'gi schrill zu schreien begann und Le'ev keine Anstalten machte, sich zu bewegen, folgte Yu'uri dem Fingerzeig und drehte sich um.
    Was er sah, fuhr wie ein Speer durch seine Magengrube. Noch immer war das Meer schwarz und schweigend, die Oberfläche ungeteilt. Im Licht der sinkenden Sonne aber, mitten auf dem glänzenden Streifen, der sich in den Wellen wiegte, waren stachelbewehrte Ringe zu sehen, mannsdick und senkrecht aufgestellt. Hoch wie ein Bootsmast.
    Yu'uri tastete in hilflosem Trotz nach dem Messer an seinem Gürtel, während um ihn herum lautes Wehklagen ausbrach.
    Die Fischer von Yebo'kraad waren gewiss keine Feiglinge - diese Lebensform hatte keinen Platz in der Welt nach Kristofluu -, aber etwas zu bekämpfen, von dem sie stets geglaubt hatten, es sei nur eine Legende, die den Wagemut der Jugend brechen sollte, überstieg ihre Fähigkeiten. Einer nach dem anderen sanken sie auf die Knie und flehten die Götter um Gnade an.
    Gnade bedeutete im Angesicht des Schlangenmonsters vom Kratersee ein schneller Tod.
    Das Geräusch war wieder da, lauter und vielstimmiger als zuvor. Es kam aus der großen fremdartigen Muschel, die nicht weit vor ihm auf dem Wasser schwamm. Also war die Beute in ihr Nest geflüchtet! Ein volles Nest, das reiche Nahrung versprach! Er konnte sie hören - der Schall trieb mit den Wellen heran -, und er spürte ihre Angst. Sein Angriff musste rasch erfolgen.
    Er war die Tiefe gewohnt, und der Körper wurde eine Last, wenn nicht genügend Wasser über ihm war. Machtvoll tauchte er ab, nutzte den Schub, den sein schleifenförmig angezogener Leib erwirkte, und fuhr nach oben.
    Wir werden alle sterben , schoss es Yu'uri durch den Sinn, als der gigantische flache Kopf, begleitet von einem Blasenschwall und schäumender Gischt, aus dem Wasser kam. Yu'uri glaubte die starren Augen der Bestie zu sehen, wie sie das Boot taxierten. Das

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