077 - Die Hexe von Andorra
letzte Name ließ Dorian ahnen, daß Quintano streng an der Tradition seiner Familie festhielt.
„Was waren das letzte Nacht für Schreie?" fragte Dorian den Schäfer, der ihm einen Krug mit heißem, aber dünnem Tee und einen Laib Brot mit einem Brotmesser brachte.
„Darüber darf ich nicht sprechen", sagte der Mann.
„Weil Sie die Peitsche fürchten?" fragte Dorian und versuchte, in dem ausdruckslosen Gesicht des Mannes zu lesen.
Sein Gesicht zeigte noch die Kratzspuren von den Krallen der schwarzen Katze. Über seiner linken Braue war eine ältere, dunkle Narbe.
Als Dorian auf seine Frage keine Antwort erhielt, fragte er den Mann nach seinem Namen.
„Ich bin Jerez. Haben Sie sonst noch Wünsche; Senor Hunter?"
„Eine ganze Reihe. Vorerst würde ich mich jedoch damit begnügen, wenn Sie mir einen erfüllen. Gibt es eine Art Chronik von Castillo Basajaun - ich meine, Aufzeichnungen über die Geschichte der Burg und seiner Bewohner?"
„Da müssen Sie Senor Quintano fragen."
Damit ging Jerez.
Dorian schlürfte mißmutig den heißen Tee und überlegte sich, ob er die Flasche aus seinem Zimmer holen sollte, uni das dünne farblose Gebräu ein wenig zu aromatisieren. Aber er tat es nicht, sondern begnügte sich damit, seine Eingeweide mit dem gefärbten Wasser zu wärmen und eine Schnitte des frischen, schmackhaften Brotes zu essen. Dabei überlegte er sich, wie er sich die Zeit bis zu Quintanos Auftauchen vertreiben konnte. Die Beule erinnerte ihn daran, daß es nicht klug sein würde, in der Burg herumzuschnüffeln. Vielleicht konnte er sich die Gegend ansehen.
Er dachte dabei an die schwarze Katze und das nackte Mädchen im Schnee, das wahrscheinlich mit jenem identisch war, das ihn in Andorra-la-Vella an Fabian Baroja verwiesen hatte. Er war sicher, daß er nicht nur ein Opfer einer optischen Täuschung gewesen war, als er sie im Schnee gesehen hatte. Es konnte nichts schaden, wenn er sich umsah.
Er verließ das Castillo. Niemand hinderte ihn daran. Aus seinem Wagen holte er Seehundstiefel, die er ebenfalls in Elizondo gekauft hatte, und vertauschte sie gegen seine Schuhe, denn er wollte sich zu Fuß auf den Weg machen.
Dorian ging ein Stück die Straße hinunter, um nach einer Schneise oder einem Pfad im Wald zu suchen. Er war noch nicht lange unterwegs, als er unweit von sich das Aufheulen eines Motors hörte. Zwischendurch vernahm er Stimmen, die Kommandos gaben und fluchten. Dorian erkannte, daß sie französisch sprachen, denn er beherrschte diese Sprache selbst ganz gut.
Als er um eine Wegbiegung kam, sah er einen Kleinbus, der mit einem Hinterrad im Schnee eingesunken war. Fünf Männer versuchten, den Wagen anzuschieben, während ein sechster am Steuer saß und Gas gab.
„Kann ich helfen?" erkundigte sich Dorian auf französisch bei den keuchenden und schwitzenden Männern, die wie Wintersportler gekleidet waren.
Dorian begab sich zu den Männern ans Heck des Wagens, und mit vereinten Kräften schoben sie den Wagen an. Nach einigen Versuchen gelang es ihnen, den Wagen aus dem Loch zu bekommen, in das sich das eine Hinterrad förmlich hineingefressen hatte.
„Danke, Monsieur. Haben Sie vielen Dank", sagte ein kleiner dicklicher Franzose mit einer rotgrünen Skimütze; er war bestimmt jünger als Dorian.
„Keine Ursache", sagte Dorian. Er deutete die Straße hinauf. „Sind Sie sicher, daß Sie auf dem richtigen Weg sind?"
„Wenn der Wegweiser nicht lügt, ja", sagte ein anderer Franzose. Er war auch jünger als Dorian, doch etwas größer und schlanker als sein Freund. „Wir wollen zum Castillo Basajaun. Wir haben gehört, daß es eine blutige Vergangenheit hat und dort auch heute noch recht seltsame Dinge passieren. Kommen Sie voll der Burg, Monsieur? Was können Sie uns darüber sagen?"
Dorian erzählte ihnen sein Erlebnis von letzter Nacht, in der Hoffnung, sie damit zur Umkehr veranlassen zu können. Aber das Gegenteil war der Fall.
„Das ist genau das, was wir suchen!"
„Auf zur Gespensterjagd!"
„Bis dann, Monsieur! Wir sehen uns bestimmt."
Dorian setzte seinen Weg fort. Er hoffte, daß Quintano diese lärmende und aufdringliche Bande hochkant hinausschmeißen würde, denn ihre Anwesenheit auf dem Castillo wäre sicher nur störend gewesen.
Der Dämonenkiller kam bis zu der Brücke über den Valira del Nord und entschloß sich, da er keinen anständigen Weg gefunden hatte, von hier aus in den Wald vorzustoßen. Der Anstieg war beschwerlich, aber er lohnte sich. Nach
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