077 - Zu Gast bei Mr. Vampir
entmutigt und fühlt sich verlassen. Da stößt sie an ein Möbel. Ein Tisch. Unter ihren tastenden Händen befindet sich eine harte, eckige Tischplatte.
Fast möchte sie in Lachen ausbrechen. Das, was sie unbewußt fürchtete, nämlich in eine ewige, grenzenlose Finsternis hineinzugehen, hat sich nicht bewahrheitet. Dieser Tisch unter ihren Händen bringt die Welt wieder in Ordnung.
Wieder wird sie von Schluchzen geschüttelt, aber es sind keine Tränen der Verzweiflung mehr. Langsam, mit vorsichtigen Schritten, umgeht sie den Tisch und tastet sich dann geradeaus weiter. Sie streckt ihre Hände aus, und plötzlich berührt sie eine Wand. Eine kühle, trockene Mauer! Sie lehnt sich dagegen und läßt ihre Hände in Schulterhöhe die Wand entlang gleiten. In dieser Höhe befinden sich normalerweise die Lichtschalter.
Sie geht die Wand entlang, und ihre Hände tasten sich in Schulterhöhe weiter. Plötzlich ein Hindernis: ein Kasten. Langsam geht sie um den Kasten herum, spürt an ihren Fingerspitzen die Türen, den Schlüssel…
Dann ist wieder die Mauer da, und plötzlich merkt sie, daß sie vor einer Tür steht, vor einer Tür, die hoffentlich aus dieser Finsternis hinausführt.
Sie zwingt sich bis zehn zu zählen und ruhig zu atmen. Dann sucht sie vorsichtig nach der Türklinke, findet sie und drückt sie nieder. Die Tür öffnet sich, und dahinter ist wieder Dunkelheit. Aber es ist nicht mehr diese undurchdringliche Finsternis, und Jeannine geht weiter. Die Nacht ist nicht mehr so bedrohlich.
Sie tritt durch die Tür, ihr Herz klopft, und ihr Inneres krampft sich vor Nervosität und Unruhe zusammen. Sie befindet sich in einem Korridor eines normalen Hauses, und am Ende des Korridors kann sie ein Fenster erkennen, dessen Glasscheiben glänzen.
Es ist Nacht draußen. Der Korridor ist nackt und kalt, kein Geräusch kommt aus dem Haus. Vielleicht ist Leggatt schon weg. Was wird auf sie hinter der Tür dort unten am Korridor warten?
Sie hat Angst, den Alptraum noch einmal zu erleben, und so bleibt sie stehen. Hätte sie wenigstens eine Waffe. Egal, welche. Mit leeren Händen fühlt sie sich so hilf- und wehrlos.
Sie blickt den Korridor entlang und bemerkt eine Treppe, die hinunterführt. Es ist eine Holztreppe, und sie fragt sich, ob die Stufen knarren werden, wenn sie hinunterläuft. Ein Knarren in dieser unheimlichen Stille klingt wie Kanonenschlag.
Sie geht lautlos den Korridor entlang und setzt den Fuß auf die erste Stufe. Das Holz macht kein Geräusch. Immer schneller geht sie treppab und das, was ihr in den Ohren dröhnt, ist ihr eigener Atem.
Am Ende der Treppe erstreckt sich eine große Halle und weit unten sieht sie eine Tür, die offensichtlich hinausführt. Sie wird von plötzlicher Panik erfaßt und läuft in wilden Sprüngen über die glatten Steinplatten zur schmiedeeisernen Tür.
Draußen fällt sie über zwei Steinstufen, die vom Haus auf den kiesbestreuten Weg hinabführen, aber sie spürt den Schmerz nicht.
Sie richtet sich wieder auf und hört, wie oben im Haus eine Tür zugeschlagen wird.
„Jeannine!“ ruft die bekannte Stimme.
Sie springt auf, und die kühle Nachtluft gibt ihr ihre Kräfte wieder. Sie läuft wie von Hunden gehetzt, wohin, weiß sie nicht, nur weg von hier.
Unter ihren Füßen spürt sie den nassen Kies; der Wind peitscht ihr den Regen ins Gesicht, aber das kühle Wasser erfrischt und belebt sie.
Wieder hört sie ihren Namen: „Jeannine!“ Es ist ein klagender, flehender Schrei.
Sie flieht weiter, läuft über nasses Gras, unter hohen Bäumen entlang, immer geradeaus.
Nun spürt sie, daß die Erde unter ihren Füßen immer nasser wird, und sie bemerkt einen kleinen Bach, der durch die Wiese fließt. Einer ihrer Schuhe bleibt in dem klebrigen Lehm haften, aber sie hält nicht an. Sie strauchelt, aber sie kann sich wieder aufrichten. Sie läuft weiter, unter Bäumen und über ein Feld, sie springt über einen Graben – und befindet sich auf einer Straße. Hier ist das Laufen einfacher und weniger anstrengend.
Und vor allem gibt es auf dieser Straße in unregelmäßigen Abständen Laternen, in deren schwaches Licht Jeannine sich flüchtet, um Kraft für den weiteren Weg zu sammeln und um zu Atem zu kommen.
Weiter vorn sieht Jeannine Häuser. Aber das genügt ihr nicht. Sie hat das Gefühl immer weiter laufen zu müssen. Hinter ihr hört sie ein Geräusch – ein Motorengeräusch. Gewiß Leggatts Cadillac. Es hat doch keinen Sinn weiterzulaufen, er kann sie
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