077 - Zu Gast bei Mr. Vampir
muß er weit weg von der Villa sein. Schon bilden sich verworrene Bilder in seiner Erinnerung, aber trotzdem verspürt er eine gewisse Befriedigung.
Jeannine Burtin ist davongelaufen, aber sie trägt bereits sein Brandzeichen, das niemals mehr ausgelöscht werden kann.
Nun geht er langsam und unsicher die Holztreppe hinab, durch die große Halle und tritt aus der schmiedeeisernen Tür ins Freie.
Was sucht er hier? Ach ja. Er muß in die Garage gehen; dort steht der große Wagen, und in dem Kofferraum des Wagens befinden sich Kleider, die er mit jenen vertauschen muß, die er jetzt am Leibe trägt. Und dann?
Dann wird er in den Wagen steigen und wegfahren.
Plötzlich ist er todmüde.
„Kommissar Fauchard, Doktor“, sagt ein Krankenpfleger und tritt zur Seite.
Dr. Morestier erhebt sich, um den Polizeikommissar zu empfangen. Der Arzt ist schlank und groß, etwa fünfunddreißig Jahre alt. Er hat ein mageres, ernstes Gesicht und helle, kluge Augen.
Der Kommissar ist fünfzehn Jahre älter, klein und untersetzt. Er macht einen besorgten Eindruck.
Morestier bietet dem Kommissar einen Platz an und setzt sich selbst hinter seinen Schreibtisch.
„Nun?“ fragt der Kommissar ohne Einleitung.
Der Arzt hebt die Schultern. „Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, daß dieses Mädchen keine Symptome einer Geisteskrankheit aufweist. Sie hat offenbar ein Erlebnis gehabt, dem ihre Nerven nicht ganz gewachsen waren, und sie steht unter einem schweren Schock. Ich gebe zu, daß die Geschichte, die sie erzählt, ganz unglaublich klingt, aber da sie geistig völlig frisch ist, gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder ihre Geschichte stimmt, zumindest im großen und ganzen, oder sie ist eine Simulantin. Weshalb, das herauszufinden liegt an Ihnen.“
Der Kommissar lehnt sich in seinem Fauteuil zurück. Er zieht eine Schachtel schwarzer Zigaretten heraus und steckt sich eine an.
„Ich bin fast sicher, daß sie keine Simulantin ist, Doktor“, sagt er. „Ich habe heute die beiden jungen Leute einvernommen, die sie auf der Straße gefunden haben. Sie betonten, daß Jeannine Burtin völlig erschöpft und zusammengebrochen war.“
„Sie hat auch viel Blut verloren und seit achtundvierzig Stunden nichts gegessen.“
„Der Blutverlust … ja. Diese Verletzung am Hals … das ist keine zufällige Verletzung, Doktor. Ich verstehe davon nicht allzuviel, aber es ist eine Wunde, die mit Präzision verursacht wurde. Und Sie wissen, wie sie sie erklärt hat?“
„Vampirismus? Gewiß, in seltenen Fällen … aber die Schilderung, die sie uns gegeben hat, hält doch nicht stand…“
„Hat sie sich irgendwann widersprochen?“
„Nein, aber das ist zu wenig, um ihr zu glauben.“
„Es gibt noch etwas anderes, Doktor“, sagt der Kommissar und zieht gedankenvoll an seiner Zigarette. „In dem Wagen, der sie hierherbrachte, hat sie in ihrer Benommenheit noch andere Namen ausgesprochen, und zu Beginn hielt sie das Mädchen, das sie von der Straße aufgelesen hat, für Greta Wyburg.“
„Und?“
„Sagt Ihnen dieser Name nichts?“
„Nein.“
„Greta Wyburg ist eine Tänzerin, die seit etwa zwei Wochen verschwunden ist. Wir stellen seither Nachforschungen an, aber sie sind bisher ergebnislos geblieben.“
„Davon habe ich nichts gehört. Ich komme meist nicht dazu, eine Zeitung genau durchzulesen!“
„Und aus den stenografischen Mitschriften ihrer Einvernahme habe ich noch zwei weitere Namen ersehen.“
„Ich erinnere mich: Marcelle Bertal und Lucienne Lefevre, nicht wahr? Sind auch die beiden verschwunden?“
„Ja.“
Der Arzt schüttelte den Kopf. „Sicher, das ist auffällig. Drei auf mysteriöse Weise verschwundene Mädchen, und dann kommt eine junge Frau, die man erschöpft und halb bewußtlos auf der Straße findet, und spricht in ihrem Delirium die drei Namen aus. Das gibt zu einiger Besorgnis Anlaß.“
„Nicht nur“, sagt der Kommissar. „Es gibt endlich einen Hinweis, eine Spur. Vermutlich ist der Entführer ein Wahnsinniger. Und wenn Sie unter diesem Gesichtspunkt Jeannine Burtins Geschichte betrachten, dann werden Sie vielleicht einsehen, daß sich alles sehr wohl so abgespielt haben kann, wie sie sagt. Die unglaublichen Details und Ungereimtheiten kommen nicht mehr von ihr, sondern entstammen einem kranken Gehirn, das diese Dinge arrangiert hat. Wenn der Mann verrückt ist, dann gelten für sein Benehmen keine Gesetze der Logik.“
„Nehmen wir es einmal so an. Aber ich bin immer noch
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