0770 - Die andere Seite der Hölle
stand genau in der Mitte zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart.
Jane schloß die Augen. Ihr Kopf sank zur Seite. Sie wollte nicht schlafen, auch wenn sie im ersten Augenblick so wirkte. Sie wollte einfach nur nachdenken und sich fragen, ob sie etwas falsch gemacht hatte. Sie war in der Kapelle mit Mächten konfrontiert worden, die sie im Prinzip nicht mochte. Plötzlich fürchtete sie sich, war aber gleichzeitig zu kraftlos, um etwas dagegen unternehmen zu können. Sie hätte einen Kick gebraucht, einen Anstoß, doch es war niemand in der Nähe, der dafür gesorgt hätte.
Ihr Blick löste sich von der Nische und erfaßte die schmalen Fenster in der Wand. Sie waren Löcher in der Zeit, Lücken in der Zelle, denn hinter ihnen schimmerte grau und trübe der Tag. Nur wenige Schritte von ihr entfernt, doch Jane kam es vor, als lägen kaum meßbare Distanzen dazwischen.
Dabei brauchte sie sich nur zu erheben, auf den Ausgang zuzugehen und die Kapelle zu verlassen.
Es war so einfach.
Nur konnte sie nicht. Auf ihren Schultern lasteten Gewichte, die sie in ihrer sitzenden Haltung niederdrückten. Obwohl keine äußerlichen Fesseln ihre Hände umschlangen, kam sie sich vor wie eine Gefangene. Sie konnte hier nicht weg, nicht aus eigener Kraft. Sie mußte einfach bleiben, bis es der anderen Macht gefiel, sie zu erlösen.
Ihre Seele zeigte eine seltsame Zerrissenheit. Jane wußte in diesen Minuten nicht, wohin sie gehörte.
Sie war eingeklemmt zwischen den Seiten, ohne Chance, sich befreien zu können. So hieß es warten, nur warten.
Die schwarze Madonna schaute zu. Hin und wieder riskierte Jane einen Blick, ohne jedoch etwas anderes zu sehen als nur die starre, gesichtslose Gestalt.
Bis sie das Geräusch hörte.
Zuerst glaubte sie wieder an das Kratzen irgendwelcher Krallen. Aber das Geräusch war nicht aus der Nische gedrungen, sondern aus einer anderen Richtung, wo der Eingang lag.
Mit einer müden Bewegung drehte Jane den Kopf. Der Mittelgang war nicht sehr lang. Sie konnte die Tür erkennen, die von außen her sehr langsam geöffnet wurde.
Wer kam dort…?
Es gelang ihr nicht, etwas zu erkennen. Sie sah nur den grauen Streifen Tageslicht, der in die Kapelle fiel und sich immer mehr verbreiterte. Eine Gestalt durchbrach ihn.
Sie war klein, aber sie warf einen großen Schatten.
Jane stand auf. Dabei mußte sie gegen die Bleigewichte an ihren Gliedern ankämpfen.
Die Tür quietschte. Das Geräusch hörte sich an wie das Wimmern eines sterbenden Tieres. Als die Tür zur Ruhe kam, erstarb es auch.
Die Gestalt war da, sie blieb, sie war keine Einbildung. Und sie streckte ihre rechte Hand aus, um die Tür zu umfassen. Sie bekam den nötigen Druck und schwang wieder zurück.
Darin fiel sie zu.
Jane Collins zuckte zusammen, als sie das Geräusch hörte. Die Chance der Flucht war vorbei. Sie hockte noch immer in der Kapelle, umgeben von einer eisigen Kälte, die aus den unheimlichen, tiefen Schlünden anderer Welten hervorkroch.
Tritte!
Sie rissen Jane aus ihren Gedanken. Sie lauschte den Geräuschen, die sich ihr näherten. Die Person nahm den Mittelgang, sie wollte zum Altar gehen.
Sie kam zu ihr…
Ein schmaler, nicht sehr großer Schatten. Die Gestalt eines Kindes, das auf den Namen Elenor Hopkins hörte. Obwohl sie Jane noch nicht erreicht hatte, spürte sie bereits den anderen Einfluß. Er war nicht mehr so wie früher, er hatte sich verändert, gewandelt und erinnerte mehr an den der Nonne Franziska.
Jane gab auf.
»Hallo, du bist da…«
Sie nickte nur.
Das Mädchen legte die letzten Schritte zurück. Neben der Bank blieb es stehen. Jane hob den Kopf an. Das Gesicht des Kindes schwebte jetzt dicht vor ihr. Sie sah das Lächeln auf den dünnen Lippen, und die Erinnerung kehrte zurück.
Waren es nicht dieselben Lippen, die sie vor kurzem gesehen hatte? Nur zeigten diese keine fauligen verbrannten Reste. Sie waren zwar blaß, aber normal.
Auch Elenor hatte eine schmale Nase. Darüber schimmerten die blassen Pupillen. Nur vordergründig blaß, denn in ihren Schächten lauerte etwas, das Jane Angst machte.
Elenor legte der Frau eine Hand auf die Schulter. »Hast du mich gesehen?« fragte sie. Bevor Jane eine Antwort geben konnte, sprach sie schon weiter. »Ja, du mußt mich einfach gesehen haben, denn du hast am Fenster gestanden und hinab in den Garten geschaut. Da waren sie alle, sie sind gekommen, um mich zu erleben, und ich habe sie geheilt.« Elenor beugte ihren Kopf vor. »Ja, Jane
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