0771 - Der Knochen-Sessel
die Jahrhunderte überdauert und wahrscheinlich eine Odyssee durch die Geschichte hinter sich.
Ich drehte mich um, weil ich wissen wollte, ob ich beobachtet wurde oder nicht.
Niemand schaute nach mir. Das kam mir natürlich zugute, und so setzte ich mein Vorhaben in die Tat um.
Ich ließ mich auf der gepolsterten Sitzfläche nieder. Es war schon ein seltsames Gefühl, ihn plötzlich mit dem gesamten Körpergewicht zu kontaktieren.
Das Kissen gab nach. Ich fragte mich, ob auch die Knochen nachgeben würden, und wartete eigentlich darauf, dass sie anfingen zu knirschen. Sie hielten meinem Gewicht stand. Noch mehr Druck gab ich, dann saß ich auf dem Kissen und hatte für einen Moment den Eindruck, in einem völlig normalen Sessel zu hocken, auch wenn dieser eine für mich zu harte Rückenlehne aufwies.
Natürlich war von einem entspannten Sitzen keine Rede. Ich stand unter Starkstrom, ich wollte herausfinden, ob durch diesen Kontakt etwas in Bewegung geriet.
Das war nicht der Fall. Oder zunächst nicht, denn es trat etwas ein, mit dem ich nicht gerechnet hatte.
Je länger der Sessel und ich verschmolzen, umso mehr hatte ich den Eindruck, dass er mir nicht einmal so fremd war. Er schien auf mich gewartet zu haben, er nahm mich auf, er umschloss mich mit seinem Flair, und die Härte der knöchernen Rückenlehne machte mir ebenfalls nichts mehr aus. Ich hatte mich wunderbar daran gewöhnt.
Meine Füße bildeten den Kontakt zur anderen Welt. Tatsächlich schoss mir dieser Vergleich durch den Sinn. Dieser Skelett-Sessel war eine kleine Welt für sich, eine fremde, doch gleichzeitig eine nicht unangenehme. Ich jedenfalls fühlte mich sauwohl.
Ich schaute nach vorn. Da saß die Blonde an ihrem Schreibtisch, da bewegten sich auch die Helfer in ihren Overalls. Alles war normal.
Nur empfand ich es nicht mehr als normal. Mir kam es vor, als hätte sich zwischen uns eine Distanz aufgebaut. Die anderen bewegten sich zwar in meiner Nähe, sie waren trotzdem etwas entfernt. Zudem hatte sich die Sichtperspektive verändert. Ich kam mir vor, als würde ich zusammen mit dem Sessel immer weiter zurückgleiten, um gewissen Grenzen zu überschreiten.
Ich schaute in die normale Welt. Sie war völlig klar, doch sie entfernte sich immer weiter.
Ich fühlte mich so federleicht. Der Sessel schmiegte sich an mich.
Die Knochen schienen sich aufgelöst zu haben oder zu einem Polster geworden zu sein.
Ich musste es zugeben. Dieser Skelett-Sessel war für mich wie geschaffen. Ich fühlte mich in ihm wohl, aber ich hörte auch das leichte Brausen in meinem Kopf.
Stimmen…?
Ich zwinkerte. Es konnte durchaus sein, dass mich ein Gruß aus der Vergangenheit über große Distanzen hinweg erreichte. Etwas war geschehen, mit dem ich noch nicht zurechtkam. Ich spürte einen Druck in meinem Kopf und hatte das Gefühl, auf meiner Brust ein Gewicht zu balancieren. Vor meiner Brust hing nur mein Kreuz.
Reagierte es auf die fremde Umgebung? Wurde es von ihr abgestoßen? Das konnte ich mir nicht vorstellen, sonst hätte ich mich nicht so wohl gefühlt.
Die Wirklichkeit zog sich immer weiter zurück. Sie verschwand in einer regelrechten Ferne, verkleinerte sich, während ich den Eindruck gewann, allmählich in die Tiefen der Vergangenheit zu reisen.
Ich hörte ungewöhnliche Laute, keine Schreie, aber Stimmen. Das Summen erreichte meine Ohren und verstärkte sich zu einem Dröhnen.
Wie Blitze entstanden plötzlich Bilder vor meinen Augen. Bleiche Gestalten erschienen. Sie sahen aus, als hätten sie schon lange im Grab gelegen. Manche Gesichter waren durch Blutflecken verunziert, aber in den Augen stand ein gieriger Ausdruck.
Ich fürchtete mich. Ich atmete heftiger. Ohne es zu merken, hatte ich beide Hände so hart um die Vorderseiten der Lehnen geklammert, dass es schon schmerzte.
Mein Herz schlug schneller. Es pumpte das Blut durch die Adern.
Bei jedem Schlag hatte ich den Eindruck, als würde sich das Kreuz mit meinem Blut füllen.
Es war schrecklich. Allein deshalb, weil ich mich in diesem Sessel so hilflos fühlte. Es waren andere Kräfte da, die mich kontrollierten.
Sie sprachen mich sogar an.
»He, Mister!« Was sollte das?
»Schlafen Sie? Sind Sie eingeschlafen? Stehen Sie auf! Wir brauchen den Sessel. Er steht jetzt zur Versteigerung an.« Etwas legte sich auf meine Schulter. Ich bekam den Ruck mit, dann hatte es die andere Kraft geschafft, mich aus dem Sessel hervor und in die Höhe zu ziehen. Ich stand, taumelte aber und
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