0772 - Das Gericht der Toten
den der Hacke oder Ferse.
Leider war nicht festzustellen, ob er von einer Frau oder einem Mann stammte.
Auch nicht bei dem Stofffetzen, der zwischen den dürren Zweigen eines trockenen Busches hing. Das Gewächs selbst hatte sich unter einer schräg liegenden Steinplatte hervorgequält, und dieser Fetzen Stoff war tatsächlich ein Taschentuch.
Ich nahm es hoch.
Sehr schwacher Parfümgeruch wehte mir in die Nase. Für mich der Beweis, dass dieses Taschentuch einer Frau gehört hatte, und ich dachte wieder an den Hilfeschrei der weiblichen Stimme.
Hier kam einiges zusammen. Doch das Schwierigste stand mir noch bevor. Ich musste die Person finden, die den Schrei ausgestoßen und das Taschentuch verloren hatte.
In den letzten Minuten hatten sich meine Gedanken und Vermutungen einfach zu stark um diese Unbekannte gedreht. Ich war nicht mehr dazu gekommen, an mich selbst und mein eigenes Schicksal zu denken, denn das war ebenfalls wichtig.
Der Sessel hatte mich von sich weggeschleudert. Nicht in eine andere Dimension hinein, nur an einen anderen Ort dieser Welt. Und das war nicht grundlos geschehen, deshalb ging ich davon aus, in dieser Umgebung die Lösung des großen Rätsels zu finden.
Meine Erinnerung kehrte zurück nach New York. Hinein in das kleine Museum, wo die Auktion stattgefunden hatte. Ich dachte an die Gestalt auf dem Sessel und auch an deren Warnung.
Sie hatte mit mir über das Gericht der Toten gesprochen. Ich stand auf der Liste. Diese Feinde wollten mich tot sehen. Aber ich sollte nicht so einfach vernichtet werden, sondern durch ein Gericht. Setzte es sich tatsächlich aus Toten zusammen? So recht glaubte ich das nicht, denn es konnten durchaus lebende Tote, also Zombies, sein.
Oder auch Ghouls.
Auf einer kleinen Kuppe blieb ich stehen. Ich sah, dass es vor mir tiefer hinab ging. Zwar nicht in eine Schlucht, aber als Klamm sah ich diese Enge schon an.
War das der richtige Weg?
Ich suchte nach weiteren Spuren, ohne allerdings auf dem glatten Gestein welche entdecken zu können. Trotzdem versuchte ich es. Irgendwas musste ich schließlich unternehmen.
Der Untergrund war glatt und rutschig. Zum Glück griffen die Sohlen. In Serpentinen näherte ich mich dem Grund der Klamm, durch die kein Bach floss.
Unten angekommen, blieb ich stehen, drehte den Kopf und schaute erst einmal zurück.
Niemand war zu sehen. Keiner hatte sich an meine Verfolgung gemacht. Trotzdem fühlte ich mich nicht sicher, weil ich den Eindruck nicht loswurde, beobachtet zu werden.
Ich schaute in eine andere Richtung. Die Klamm verengte sich.
Dort kam ich nicht weiter. Und an der rechten Seite, wo die Wand in einem nicht so steilen Winkel in die Höhe führte?
Meine Augen weiteten sich. Obwohl ich schon viel erlebt hatte, konnte ich nur staunen. Diesmal über eine natürliche Treppe, die an der schräg verlaufenden Felswand hoch führte.
Das musste der Weg sein.
Ich zögerte keine Sekunde länger und ging los…
***
Die Fotografin Rose Cargill wusste nicht, ob sie Stunden, Tage oder Nächte in einem Verlies verbracht hatte, in dem es stockfinster war und das sie immer mehr an die Folterkammern mittelalterlicher Burgverliese erinnerte, denn als sie es in der Finsternis durchwanderte und durchtastet hatte, waren ihre Hände nicht nur über feuchtes Mauerwerk geglitten, sondern auch über das Holz einer niedrigen Tür. Alte, stinkende Lappen verströmten Leichengeruch. Niemals würde sie sich daran gewöhnen können, doch es gab keine andere Möglichkeit für sie. Solange die anderen nicht wollten, dass sie hier herauskam, musste sie zwischen den dicken Wänden dahinvegetieren.
Wer waren die anderen?
Darüber machte sich Rose immer wieder Gedanken. Für sie waren die nicht normal. Obwohl sie erst zwei von ihnen kennen gelernt hatte, waren es keine Menschen und keine Tiere, sondern eine Mischung aus beiden.
Bestien, Mutationen, Dämonen?
Ihr kamen zahlreiche Begriffe in den Sinn. Sie konnte sich für keinen von ihnen entscheiden und gab ihnen deshalb von jedem etwas.
Jedenfalls konnte es schlimmere Wesen nicht geben, das war schon die absolute Spitze des Grauens.
Rose hatte sich schließlich in ihr Schicksal ergeben und sich in die tiefe Finsternis gehockt. Als positiv empfand sie, dass sie noch lebte.
So recht freuen konnte sie sich darüber nicht, denn sie wusste nicht, was die anderen noch mit ihr vorhatten. Es gab schließlich Dinge, dagegen war der Tod direkt eine Gnade.
Rose blieb das Warten, das Bangen und
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