0772 - Das Gericht der Toten
auch das Hoffen auf vielleicht bessere Zeiten.
Träge verstrichen die Stunden, und die Stille empfand sie sehr schnell als Folter. Sie war da, sie bedrückte sie, sie war wie ein Block, der sich immer mehr verdichtet, als wollte er ihren Atem stoppen. Manchmal rieselte eine Gänsehaut über ihren Rücken. Hin und wieder hörte sie auch kratzende Geräusche. Dann stellte sie sich jedes Mal vor, als wären die gekrümmten Finger der lebenden Leichen dabei, über den harten Untergrund zu schaben.
Geweint hatte sie nicht. Rose machte sich darüber auch keine Gedanken. Das würde sicherlich noch kommen, wenn sie abgeholt wurde. Sie rechnete nicht damit, dass man sie hier verhungern und als Nahrung zurückließ.
Obwohl – man konnte ja nie wissen…
Rose wollte auch nicht mehr an Manus Erzählungen denken. Sie musste sich auf sich selbst konzentrieren. Sie versuchte es mit einer gedanklichen Ablenkung. Zuerst dachte sie an ihren Beruf und holte sich die schönen, positiven Bilder ins Gedächtnis zurück. Dann erinnerte sich die Fotografin an ihr Zuhause, an die Kindheit vor allen Dingen, die sie im herrlichen Elsass erlebt hatte. Sie vermeinte sogar, den Duft des Federweißen zu riechen, wenn er im Herbst zusammen mit dem Zwiebelkuchen serviert wurde.
Es waren Wunschträume, denn der widerliche Leichengestank überwog bei weitem.
Plötzlich änderte sich alles. Nicht in ihrem Gefängnis, sondern draußen vor der Tür. Denn dort hörte sie Geräusche.
Waren es Schritte?
Rose Cargill hielt den Atem an. Ihr Herz klopfte schneller. Vorbei war es mit den schönen Erinnerungen. Die brutale Wirklichkeit hatte sie blitzschnell eingeholt.
Kamen sie, um sie zu holen?
Noch hockte sie auf dem stinkenden Stroh. Dann gab sie sich einen Ruck und stand auf. Die Prellungen an ihrem Körper waren vergessen, nur die linke Kniescheibe schmerzte noch bei jeder Belastung.
Sie ging zurück, bis eine Wand sie stoppte. Durch die Erkundigungen wusste Rose, dass die dicke Holztür genau vor ihr lag. Von dort würden sie also kommen.
Ihr Herz schlug schnell, immer schneller. Die Angst durchdrehte wie eine Spirale ihr Innerstes. Die Kehle hatte sich mit Speichel gefüllt, der sie an stinkenden Schlamm erinnerte.
Vor der Tür verstummten die Geräusche.
Rose zitterte. Sie lauschte. Etwas knirschte, als wäre Holz eingedrückt worden. Dann hörte sie ein schreckliches Geräusch. Das elende Quietschen drang wie eine Botschaft aus dem Totenreich an ihre Ohren, als wäre dort eine gequälte Seele dabei, allmählich einzugehen.
Da sich ihre Augen an die absolute Finsternis gewöhnt hatten, empfand Rose selbst das flackernde Licht einer Kerze als blendend.
Es tanzte in ihr Gefängnis. Sie zog die Augen zu Schlitzen zusammen und erkannte deshalb nicht, wer die Kerze hielt.
Erst später, als die Tritte deutlicher wurden und der süßliche Modergestank auf sie zuwehte, öffnete sie wieder die Augen.
Das Bild war furchtbar!
Sie kannte das Wesen, das die Kerze hielt. Es war dieser Zombie, dessen Haut über und über mit nässenden Geschwüren bedeckt war. Er ging gebückt.
Ein Zweiter folgte ihm. Und dieses Wesen hatte sie noch nie zu Gesicht bekommen. Es war ihr neu.
War das der Teufel oder zeigte sich der Zweibeiner mit seiner schuppigen grünen Haut nur so? Auf seiner Stirn wuchsen zwei Hörner. Am Kopf wirkten die langen und spitzen Ohren wie festgeleimt. Er trug keine Kleidung und war auch geschlechtslos. Der Kerzenträger war mit einem nachthemdähnlichen schmutzigen Gewand bekleidet, das über den Boden schleifte.
Die beiden boten ein Zerrbild der Hölle, und sie blieben vor Rose stehen, um sie anzuschauen.
Gnade würden sie nicht kennen. Das zuckende Licht tanzte in die Höhe und über das mit Geschwüren bedeckte Gesicht des Monsters hinweg. Es verfing sich in den Augen, wo es innerhalb der Pupillen Licht und Schatten hinterließ, doch die wahnsinnige Grausamkeit des Blicks nicht unterdrücken konnte.
Der Unheimliche stierte Rose an. Er fixierte sie und suchte dabei ihren Körper ab. Sie kam sich vor wie ein Tier, das zur Schlachtbank geführt werden sollte, und sie konnte nicht mehr hinsehen. Deshalb drehte sie den Kopf zur Seite. Über ihren Körper jagten Kälteschauer. Das Blut schien sich in Eis zu verwandeln.
Erst als sie tapsige Tritte hörte, schaute sie wieder hoch. Nicht der Kerzenträger kam auf sie zu, sondern der grünhäutige Abkömmling des Teufels näherte sich ihr.
Die Angst wurde größer. Auch etwas anderes.
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