0775 - Haus der Toten
nicht so, als würde er deswegen ausrasten. Es war nicht so, als würde er deswegen immer wieder und wieder zustechen, bis ihr dummes, hämisches Gesicht endlich bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt war.
David blieb wie angewurzelt stehen. Hatte da jemand gerade etwas gesagt? Oder war da ein Geräusch gewesen? Ihm war, als hätte gerade etwas zu ihm gesprochen, aber er hatte schon wieder vergessen, was es gesagt hatte.
Ein paar Sekunden lauschte er noch, konnte aber nichts hören. Also setzte er sich wieder in Bewegung.
Wirklich, Jenny brauchte nur etwas zu sagen, wenn sie nicht mehr mit ihm zusammen sein wollte. Er würde schon damit umgehen können. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass ihn eine Frau betrogen hatte. Aber er hatte es ihr gezeigt, oder nicht? O ja, das hatte er. Und trotzdem musste er immer noch so tun, als ob nichts gewesen wäre, wenn der verfluchte Verräter vorbeikam, um den besorgten Freund zu spielen. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht ging er die Treppe hinunter. Am Fuß der Treppe wartete Charles auf ihn, in seinem burgunderroten Anzug, den Hut in der Hand.
»Da bist du ja, Charles«, rief er mit einer falschen Fröhlichkeit, die ihm selbst zuwider war. Trotzdem ging er mit festem Schritt auf seinen alten Freund zu, um ihn mit ebenso falscher Herzlichkeit zü begrüßen.
Doch als er Charles die Hand zur Begrüßung hinstreckte, verschwamm die vertraute Gestalt für eine Sekunde und ihm war, als würde eine völlig andere Person vor ihm stehen; ein schlaksiger junger Mann mit wilden Haaren. Für eine Sekunde war ihm, als würde etwas nicht stimmen, als wäre irgendetwas anderes in seinem Kopf, das ihm Bilder und Gedanken einflüsterte. Für einen Moment kannte er diesen jungen Mann, wusste sogar fast seinen Namen.
Dann blinzelte John und sah wieder die altvertraute Gestalt seines Freundes vor sich. Charles hatte sich gut gehalten. Sein Haar war mittlerweile ausgebleicht und sein Gesicht voller Falten, aber er wirkte immer noch körperlich fit. Das Weiß seiner Haare, das sich auch auf seinen riesigen Schnurrbart erstreckte, ließ ihn eher weise und welterfahren als alt aussehen. Und in seinen Augen war immer noch ein jugendliches Funkeln.
»John«, begrüßte Charles ihn, »es tut gut, dich zu sehen. Wie lange ist es her?«
Genau ein Jahr, dachte John. Wie immer. Jedes Jahr zu ihrem Todestag. Seit 20 Jahren, jedes verdammte Jahr. Es wird Zeit, dass du erhältst, was du willst, du verdammter Schnüffler.
Laut sagte er: »Viel zu lange, alter Freund, wie immer, seit du weggezogen bist.« Dann rief er dem Hausmädchen zu: »Sie können nach Hause gehen, Lucy. Um diesen Gast kann ich mich alleine kümmern.«
Vage hörte er sie irgendetwas antworten, aber er hatte sie schon vergessen. Seine ganze Aufmerksamkeit gehörte seinem Freund und ehemaligen Nachbarn.
»Also, mein Lieber«, sagte er, indem er einen Arm um Charles legte, »was bringt dich hierher?«
»Dasselbe wie immer. Der Versuch, dich aus deinem Einsiedlerdasein zu holen.« Charles packte ihn an den Schultern und blickte ihm eindringlich in die Augen. »Es ist nicht gesund für dich, dass du dich hier so zurückziehst, John. Der Mensch braucht Gesellschaft wie die Blumen das Wasser.«
John schaute ihn ernsthaft an und versuchte, nachdenklich zu wirken. »Ich weiß ja, dass du Recht hast. Aber seit Charlotte - seitdem sie…« Er unterbrach sich kurz, als müsse er sich sammeln. »Seit Charlotte von den Klippen gestürzt ist, ist mir jeder neue Tag ein Gräuel. Jeden Morgen muss ich um die Kraft kämpfen, überhaupt aus dem Bett aufzustehen. Ich hatte gehojft, dass dieses Gefühl Vorbeigehen würde, aber das tut es nicht.« Er unterdrückte ein wohl kalkuliertes Schluchzen und fügte mit bebender Stimme hinzu: »Vielleicht hätte ich ihr einfach folgen sollen.«
»Red keinen Unsinn, Mann«, antwortete Charles entrüstet. »Wie soll es dir auch jemals besser gehen, wenn du dich mit deinen Erinnerungen einschließt? Was du brauchst, ist Abwechslung! Luft und Sonne und andere Menschen!«
Wieder tat John so, als müsse er über die Worte seines Freundes nachdenken. Dann stieß er einen tiefen Seufzer aus. »Du bist ganz schön hartnäckig, mein Alter. Also gut: Um dir einen Gefallen zu tun, werde ich heute einen ersten Schritt machen.«
Er griff in seine Hosentasche und fischte einen Schlüssel heraus. »Das hier ist der Schlüssel zum Salon. Ich habe ihn seit Charlottes Tod nur noch ein paarmal im Jahr zum Lüften
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