0776 - Racheengel Lisa
den Kopf. Es hatte alles sehr gut geklappt, zumindest was ihre Flucht anging. Sie hatte darüber nachgedacht und sich die Bilder noch einmal vor Augen geführt. Aber das gehörte der Vergangenheit an, für sie ging es um die Zukunft, und die musste sie in die eigenen Hände nehmen.
Sie brauchte ein Versteck!
Klar, nüchtern und realitätsnah dachte Lisa darüber nach. Sie brauchte nicht nur das Versteck, sondern auch Geld, und das würde sie sich besorgen müssen.
Sofort dachte sie an Raub, doch diese Tat war für sie kein Verbrechen, denn wenn sie einen Menschen fragte, dann würde er ihr kein Geld freiwillig geben, obwohl sie doch für die gerechte Sache kämpfte. Aber die Menschen waren nicht nur schlecht, ihnen fehlte auch der Durchblick, und deshalb mussten auch so viele von ihnen sterben. Selbst ihr Vater hatte kein Verständnis für sie gehabt, und sie verfluchte ihn mehrmals, als sie über ihn nachdachte. Er hätte etwas sagen und Verständnis haben müssen, aber das hatte er nicht gehabt. Da war er das glatte Gegenteil zu ihrer Mutter, und die war tot.
TOT – TOT – TOT.
In ihrem Gehirn explodierte jedes Wort. Es breitete sich wie scharfe Blitze aus und funkte in jeden Winkel hinein. Es gab kein Zurück mehr, die Mutter war tot, und mit großer Wehmut dachte sie daran, wie sehr Helen ihr fehlte.
Es war furchtbar…
Sie dachte wieder an die Beerdigung zurück, an das kalte Grab, an den Sarg, als er hineingelassen wurde, und sie dachte auch daran, wie schlecht es ihr ergangen war.
Sehr schlecht…
Lange Zeit sogar. Aber einem Engel sollte es nicht schlecht gehen, er sollte die Menschen beglücken und nicht dahinsiechen. Wie lange hatte sie dem Grab der Mutter fernbleiben müssen?
In den langen Stunden in der Zelle hatte sie Helen so oft um Verzeihung gebeten und immer versucht, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Lisa ging davon aus, dass ihre Mutter ein Engel geworden war. Einer der Engel, die wie viele andere auch, zwischen den Zeiten schwebten und auf die Menschen herabschauten, um sie zu beobachten. Ja, so muss es einfach gewesen sein. Ihre Mutter hatte nie den Kontakt mit der Tochter verloren, sie wusste genau, was diese tat, und sie hielt immer zu ihr. Auch jetzt noch, wo Lisa der Gerechtigkeit zu einem Sieg verholfen hatte.
Diese Ehre musste sie ihr einfach erweisen. Das Grab der Mutter war wichtig. Sie wusste auch genau, wo es lag, den Weg dorthin würde sie nie vergessen, aber sie dachte auch daran, dass es Menschen gab, die ihr nicht wohl gesonnen waren, die sie für eine Mörderin hielten und nun Jagd auf sie machten.
Sie nannten sich Polizisten…
Allein bei diesem Begriff rann ihr ein Schauer über den Rücken.
Wie sie diese Menschen plötzlich hasste, und sie schwor, jeden zu töten, der ihr zu nahe kam.
Das wichtigste Problem aber war geblieben.
Sie brauchte Geld.
Erst jetzt stellte sie fest, dass sie noch immer mit dem Rücken an der Außenwand der Zelle lehnte. Lisa kam sich vor wie aus einem tiefen Traum erwacht. Sie öffnete die Augen, schüttelte den Kopf und sah, wie kleine Schatten von oben herab in ihr Blickfeld gerieten. Nein, sie hatte nichts mit den Augen, es waren Blätter, die sich von den Zweigen gelöst hatten und zu Boden trudelten. Ihr fiel ein, dass die Zelle in einem der zahlreichen Parks stand. Sie hatte ihn nach der Tat als Versteck genommen, hier konnte suchen, wer wollte, sie würde immer im Vorteil sein.
Lisa fühlte sich zwar als Engel, dennoch war sie ein Mensch.
Längst hatte der Herbst den Sommer abgelöst. Er war nicht nur mit Kälte gekommen, auch mit Wind, und wenn er gegen ihre schmale Gestalt blies, dann drang er auch durch den Mantel bis auf die Haut, sodass sie hin und wieder stark fror.
Sie hatte Hunger, sie musste etwas essen, auch etwas trinken, und sie schaute auf, als sie hastige Schritte hörte. Ein gut gekleideter Mann eilte auf die Telefonzelle zu. Er war so mit sich selbst und seinen Problemen beschäftigt, dass er die an der Außenwand lehnende Gestalt nicht sah. Er riss die Tür der Zelle auf und verschwand darin.
Er suchte nach Münzen, fand keine und holte seine Geldbörse aus der Innentasche der Jacke.
Das bekam Lisa mit.
Plötzlich funkelten ihre Augen, denn der Mann tat etwas, das man normalerweise nicht tun durfte. Nachdem er das Kleingeld gefunden hatte, legte er die Geldbörse auf die verschmierte und verkratzte Ablage unter dem Apparat.
Sie lächelte, wartete, bis der Mann gewählt und auch Anschluss gekriegt hatte. Sie
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