0781 - Die Hexe von Hilversum
»Heuchelt nicht so!«
Sie schwiegen und entfernten sich sehr schnell vom Grab, bevor er ganz durchdrehte und sie vielleicht noch zusammenschlug.
De Rijber bedauerte es jetzt, sie dazu gezwungen zu haben, an der Beerdigung teilzunehmen. Die Schlange der Menschen schien einfach nicht abzureißen.
Aber sie dünnte sich aus, und die Leute versammelten sich abseits des Grabes zu kleinen Gruppen.
Er schaute nicht mehr hin, wer vor ihn trat. Seine beiden persönlichen Leibwächter standen in der Nähe. Mit gelangweilten Gesichtern starrten sie in die Gegend.
Wieder erschien eine Frau. Jan de Rijber schaute gar nicht hin. Er sah eine helle Hand, die sich ihm entgegenstrecke, und wunderte sich über den Druck, der um einiges fester war als der der meisten Frauenhände.
Noch mehr wunderte er sich über die Worte, die diesen Händedruck begleiteten. »Er war ein Schwein, und er hat genau diesen Tod verdient, Ihr Bruder.«
Erst jetzt blickte de Rijber auf.
Vor ihm stand Linda Vermool!
***
Der Gangsterchef war dermaßen überrascht, dass es ihm glattweg die Sprache verschlug. Er hielt die Hand, er hatte die Worte gehört, er spürte plötzlich die Kälte auf seinem Rücken und wenig später auch die heiße Wut, die ihn durchströmte. Dann ließ er ihre Hand los, als wäre sie heiß geworden, und hob den Blick.
Beide starrten sich an.
Linda Vermool spähte in sein Gesicht, als wolle sie dort etwas ausforschen. Sie hatte sich angemessen gekleidet, trug einen schwarzen Mantel und hatte ihre blonden Haare unter einem ebenfalls schwarzen Kopftuch versteckt. Das Gesicht zeigte kaum Schminke, die Lippen waren zu einem abwartenden Was-macht-er-wohl-jetzt-Lächeln verzogen, und der Blick ihrer Augen spiegelte praktisch ihren Wunsch wider.
De Rijber bewegte seine Lider zwinkernd. Er schaute für einen Moment an ihr vorbei. Sie war tatsächlich die letzte Person gewesen, um ihm »Beileid« zu wünschen. Das Rauschen seines Blutes in den Ohren übertönte auf einmal alle anderen Geräusche.
Was wollte sie hier? Was brachte sie dazu, ihm so etwas ins Gesicht zu sagen?
Er zitterte vor Wut, hatte sich trotzdem noch gut unter Kontrolle und zischte: »Was wollen Sie?«
Sie antwortete mit einer Gegenfrage: »Was will man schon auf einer Beerdigung? Dem Toten einen letzten Gruß oder Dienst erweisen. Nicht mehr und nicht weniger.«
»Für Sie war er doch ein Schwein.«
»Dabei bleibe ich auch.«
»Trotzdem sind Sie gekommen?«
»Ja.«
»Warum?«
Linda gab noch keine Antwort. Sie blickte sich erst um, wer in der Nähe war. Die beiden Leibwächter schauten zu Boden, die anderen Trauergäste waren dabei, sich zurückzuziehen. Jan hatte sie zu einer Feier eingeladen und dafür ein Hotel gemietet. »Ja, wissen Sie, ich wollte sehen, wie man seinen Kadaver in die feuchte Erde hinabläßt. Dieses Schauspiel lag mir wirklich am Herzen.«
»Das haben Sie gesehen.«
»Es hat mir sogar gut getan. Ich habe mich damals zu etwas zwingen lassen, aber da war ich noch nicht so weit wie heute.«
»Was meinen Sie damit?«
»Das wissen Sie selbst genau.«
Jan de Rijber schüttelte den Kopf. »Wieso glauben Sie, dass Sie heute weiter sind als damals?«
Linda Vermools Antwort war ein schmales Lächeln. De Rijber schaute dabei in ihre Augen. Sie waren so klar, aber gleichzeitig auch so kalt wie Eis. Man konnte sich vor ihnen fürchten, und in ihm stieg der Verdacht auf, dass ihr Lächeln etwas Besonderes zu bedeuten hatte. Er wusste nicht, was er davon halten sollte, das ließ ihn unsicher werden. Er spürte die Selbstsicherheit, die Linda Vermool ausstrahlte, und das verunsicherte ihn noch mehr.
Jan de Rijber schüttelte seine Beklemmung ab. Er dachte daran, was er alles hatte tun wollen, wenn diese Frau vor ihm stand. Ihr allein hatte er die Schuld am Tod seines Bruders gegeben. Sie war eine Hexe, sie war mit dem Teufel im Bunde, Piet hatte es ähnlich gesehen, und nur Hexen waren imstande, Tiere unter ihre Kontrolle zu bringen. Das hatte es schon zu allen Zeiten gegeben. Warum sollte sich das heute nicht wiederholen?
Er schaute Linda Vermool an, und er sah ihr Lächeln. Dabei durchrieselte es ihn kalt. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie genau wusste, was er dachte.
Hexen besaßen außergewöhnliche Fähigkeiten. Konnten sie auch die Gedanken anderer Menschen lesen?
Er traute ihr alles zu. Im gleichen Maße wuchs sein Widerstand gegen diese Person, sein Hass auf sie steigerte sich noch, und plötzlich dachte er daran,
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