079 - Im Würgegriff des Nachtmahres
als Schattengestalt an der Tür stehen
sehen, während ich noch in meinem Verstec lag. Ich wußte: Das da vorn — das
bist du!
Kann ein Mensch sich verdoppeln?
Bin ich Felix Lucelion — und der Nachtmahr in einer Person?
Der Psychiater unterbrach die Lektüre des Tagebuchs.
Sein Hirn arbeitete.
Minutenlang saß er da und starrte auf einen imaginären Punkt.
Unruhe und Zweifel erfüllten ihn.
Was war Wirklichkeit, was war Traum?, Lucelion hatte sich diese
Frage ständig gestellt.
Monette vergaß die Zeit. Es entging ihm, daß er bereits seit
Stunden in dem Tagebuch las.
Der Psychiater nahm 'teil an der Angst, den Zweifeln und
Bedrängnissen eines Menschen, der wahrhaftig kein alltägliches Leben geführt
hatte.
Auf den nachfolgenden Seiten kam zum Ausdruck, wie sehr Lucelion
sich nach dem Ereignis vom 19. Februar belauert und bedrängt fühlte.
Überall — auf der Straße, in der Metro, im Theater, im Kino und in
Kaufhäusern, fühlte er sich beobachtet. Er sah den Blick der schrecklichen
Augen auf sich gerichtet, die, wie er wörtlich schrieb wie Feuer auf seiner
Haut und in seiner Seele brannten. Vergebens hoffte Monette endlich auf jene
Zeile zu stoßen, wo Lucelion sich dazu hinreißen ließ, eine genaue Beschreibung
des Nachtmahr zu geben. Er bezeichnete sein Aussehen als „menschliche Gestalt,
schlank, geschmeidig". Ein andermal sei er „dick und feist" gewesen —
Monette wußte nicht, woran er sich noch halten sollte. Das einzige, was sowohl
bei dem „schlanken" als auch dem „fetten" Nachtmahr zu finden war,
das waren die schrecklichen Augen und das unbeschreibliche Gesicht.
Monette kam es so vor, als fürchte Lucelion sich davor, hier genau
zu werden. Oder er war nicht imstande dazu.
Der Geisteszustand seines früheren Patienten war besorgniserregend
gewesen.
Monette beglückwünschte sich zu der spontanen Entscheidung, das
Tagebuch zu sich genommen zu haben. Es war die geschlossene Selbstdarstellung
eines geistig verwirrten Menschen, wie das in dieser Form noch nie vorgelegen
hatte. Monette faßte einen Plan. Zu einem späteren Zeitpunkt würde es gewiß
nicht verkehrt sein, diese Aufzeichnungen zu publizieren.
Bis dahin allerdings mußte er noch mehr Daten über das Leben
dieses ungewöhnlichen Menschen zusammentragen. Er machte sich Notizen. An der
Spitze der Fragen, die er abklären mußte, stand das Stichwort Patloff"!
Wer war Patloff gewesen, und in welcher Beziehung hatte er zu Lucelion
gestanden?
Auf den nächsten Seiten tauchte der Name Patloff nicht ein
einziges-Mal mehr auf.
Monette kam an die Stelle, wo Lucelion sich vorgenommen hatte,
diesmal in jenem Zimmer zu sein, wo der Nachtmahr als nächstes zuschlagen
würde.
Diesmal wird es in der Rue du Surmelin sein! Ich werde mir einen
Nachschlüssel vom Zimmer der gegenüberliegenden Wohnung besorgen und noch vor
dem Auftauchen des Nachtmahr dort sein und mich verstecken. Eine Pistole habe
ich mir schon vor geraumer Zeit besorgt. Wenn er mich anfallen sollte, werde
ich schießen. Wie wird dieser Abend ausgehen?
Das waren die letzten Worte, die er dem Tagebuch anvertraut hatte.
Hier endeten die Aufzeichnungen. Monette wußte, wie dieser Abend
ausgegangen war. Er hatte mit dem Tod Felix Lucelions geendet.
●
Monette klappte das Tagebuch zu, steckte es zurück in den Tresor
seines Arbeitszimmers und entschloß sich sehr schnell, sein Haus zu verlassen.
Draußen dämmerte es bereits. Es war kurz vor acht, als er sich in
seinen Wagen setzte und zum Haus Nr. 17 in die Rue du Surmelin fuhr.
Es reizte ihn, den angeblichen Spuren nachzugehen, die Lucelion in
seinem Leben hinterlassen hatte.
Sicherlich war alles nur auf die übermäßig arbeitende Fantasie und
die Verfolgungsangst Lucelions zurückzuführen.
Die beiden Mordfälle, die tatsächlich passiert waren und die
einiges Aufsehen in der Pariser Bevölkerung erweckt hatten, mußte Lucelion
geschickt in seinen Verfolgungswahn mit eingebaut haben.
Vor dem Haus Nr. 17 in der Rue de Surmelin stellte Monette seinen
Citroen ab, näherte sich dem Hauseingang und betrachtete die zahlreichen
kleinen Namensschildchen.
Sein Gesicht wurde ernst, als er das Schild entdeckte, das ganz
oben links angebracht war.
Darauf stand: Felix Lucelion.
●
Monette ging ins Haus. Es roch muffig und alt. Der Verputz
bröckelte von den Wänden des Korridors. Die Tür zum Hof stand offen. Eine
schwarze Katze zwängte sich durch den Türspalt und blickte dem fremden
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