079 - Im Würgegriff des Nachtmahres
auserwählte
Schönheiten.
Ihre Züge waren sanft, und ein leichtes Lächeln lag um die Lippen
der Schönen. Die Augen strahlten, als würden sie leben.
An den Frisuren der im Glaskäfig gefangenen Frauen erkannte Morna,
daß es sich um Menschen aus einer anderen Zeit handelte.
Aber sie entdeckte auch zwei Frauen, deren Gesichter sie kannte,
Frauen, die nicht vor einhundert oder zweihundert Jahren in diese gläserne
Gefriertruhe gebracht worden waren — sondern erst vor relativ kurzer Zeit.
Morna sah die zweite und dritte Frau von Edouard de Ayudelle.
Der Fabrikant lachte leise. „Sie waren schön, nicht wahr? Sie
werden in fünfzig und hundert Jahren noch so schön und unverändert sein."
„Und auch sie — kamen freiwillig hierher?"
„Ja. Genau wie Virginie. Da hinten ist sie. Sie sucht sich nur
noch ihren Platz aus."
Die Schwedin hatte das Gefühl, als griffe eine eisige Krallenhand
in ihren Nacken.
Virginie de Ayudelle! Da lief sie tatsächlich! Sie kam um eine
grauweiße Säule herum. Es gab viele dieser schlanken Säulen, die mit
hufeisenförmigen Bögen untereinander verbunden waren.
Man glaubte, in einen Säulenwald hineinzusehen. In den Nischen
links und rechts der Säulen und zwischen ihnen standen die Ruhebänke, die
samtenen Sofas, die kleinen Tische, auf denen Bücher lagen und Früchte in
durchsichtigen oder farbenprächtigen Schalen bereitstanden.
Die eisgekühlten und erstarrten nackten Schönen jedoch konnten
weder Früchte essen noch nach einem Buch greifen.
Dies alles war Dekoration. Ein Spiel mit ästhetischen Formen.
Virginie de Ayudelle war wie die anderen Gestalten im Glashaus
völlig unbekleidet. Im Gegensatz zu ihnen konnte sie sich jedoch noch bewegen.
Die von zu Hause weggelaufene Fabrikantenfrau schien nicht zu
begreifen, in welcher Gefahr sie schwebte. Mornas Hirn arbeitete fieberhaft.
Was konnte sie tun, um die offenbar in Trance befindliche Virginie de Ayudelle
vor ihrem Schicksal zu bewahren?
Edouard de Ayudelle stand dicht neben ihr. Aus den Augenwinkeln
heraus nahm sie jede Reaktion, jede Bewegung wahr. De Ayudelle schätzte die
Schwedin richtig ein. Er ließ sie nicht aus den Augen, und das entsicherte
Gewehr hielt er schußbereit in der Hand.
„Warum?" fragte Morna, „warum muß sie sterben?"
Sie hielt de Ayudelle für ein menschliches Ungetüm, der der Umwelt
sein wahres Gesicht verbarg.
„Weil ich Freude daran habe und weil ich die Möglichkeit besitze,
sie auf eine Weise sterben zu sehen, die normalerweise einem Mann nicht gewährt
wird. Sie sucht sich ihren Platz aus, der ihr gefällt. Es gibt noch viele freie
Plätze, die für andere vorgesehen sind. Irgendwann werden sie sich füllen. Wenn
nicht durch mein Wirken dann durch das meines Nachfolgers. Irgendwie wird es
mir gelingen, jemanden zu finden, der bereit ist, Chateau Germaine so zu
übernehmen, wie es ist. Ich habe das Schloß vor dreißig Jahren gekauft. Niemand
wollte es haben. Die Gerüchte, die das Gebäude umgaben, hielten alle
Interessenten vom Kauf ab. Ich wollte es genau wissen. Mein Vorgänger weihte
mich ein. Dieses Schloß gehörte ursprünglich einem Marquis namens Alexandre de
L'Isle. Er lebte nach der Fertigstellung des Chateaus von 1724 bis 1775 hier.
In der Chronik steht, daß er ein Außenseiter war. Er betrieb wissenschaftliche
Studien. Er richtete sich ein vollständiges, für damalige Zeiten mit allen
Raffinessen ausgestattetes Labor ein. Den Raum, der diesem Labor angeschlossen
war, haben wir vor Augen: die Kammer der toten Frauen. Auch sie geht auf den
Marquis zurück. Er hat sie eingerichtet. Außer seinen geistigen Leidenschaften
hatte der Marquis auch eine körperliche: Er war den Freuden des Lebens nicht
abgeneigt. Er liebte oft und gerne, und dann nicht nur eine Frau. Länger als
ein Jahr hielt er es mit keiner aus. Dann hatte er meistens eine neue Geliebte,
und es stellte sich ihm das Problem, die alte zu beseitigen. Da er
hervorragende Kenntnisse der Kühltechnik besaß, kam ihm eine Idee. Er wollte
seine früheren Geliebten nicht einfach verscharren. Das widersprach dem Sinn
dieses Ästheten. So kam er auf die Idee, die kleine Kühlkammer zu einer großen
auszubauen und sie einzurichten. Die Schönen, die er im Laufe seines Lebens
liebte, gingen alle den gleichen Weg. Ihre Leiber wurden unterkühlt und in
diesem Glashaus aufbewahrt. Von seinem Platz in diesem Sessel da drüben",
de Ayudelle drehte sich kurz um und wies auf das betreffende Möbelstück, „hat
er
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