079 - Im Würgegriff des Nachtmahres
seine Sammlung oft stundenlang betrachtet und bewundert. Man sitzt hier wie
im Kino und kann die Darbietung wie auf einer Leinwand beobachten, nicht
wahr?"
Morna preßte die Lippen zusammen. „Haben auch de L'Isles Geliebte
freiwillig ihr todbringendes Gefängnis aufgesucht?" fragte sie. Ganz
verstand sie die Dinge immer noch nicht.
„Da muß ich etwas ausführlicher werden", bemerkte de
Ayudelle, der Freude am Erzählen gefunden zu haben schien. Er setzte schon
wieder zum Sprechen an, wurde aber abgelenkt.
Virginie de Ayudelle war nur wenige Schritte von ihnen entfernt.
Ihr vollendeter Körper war mit einer hauchdünnen grauweißen Schicht bedeckt,
als bilde sich langsam eine Eiskruste auf ihrer Haut. Aber Virginie de Ayudelle
schien nicht zu frieren. Ihre Empfindungen waren ausgeschaltet.
Edouard den Ayudelles Auge waren weit geöffnet, als müsse er verhindern,
daß ihm etwas entginge.
Seine Frau umging die vordere Säule und blickte gedankenverloren
auf die drei Beobachter, die von ihr aus gesehen hinter der Glaswand standen.
Aber nichts wies darauf hin, daß Virginie sie wahrnahm.
Sie suchte sich das sehr weit vorn stehende Sofa aus und nahm in
einer eleganten Pose darauf Platz, als forderte sie eine innere Stimme dazu
auf.
Virginie de Ayudelle schlug die Beine übereinander, legte ihre
schlanken Arme auf die Rückenlehne des Sofas und lehnte sich zurück. Sie atmete
tief durch und veränderte von diesem Augenblick an ihre Haltung nicht mehr.
„Geschafft", murmelte de Ayudelle. „Sie hat ihren Platz
gefunden. Nun zu Ihnen. Ich wäre gespannt gewesen, welche Stelle Sie sich in
der Vitrine ausgesucht hätten. Ich bin überzeugt davon, daß wir beide
ausgezeichnet miteinander ausgekommen wären. Schade, daß Sie so neugierig
waren. Wer hat Sie in mein Haus gelotst, Morna? Die Polizei? Ist man
mißtrauisch geworden? Kann ich mir nicht vorstellen. Schließlich ist das erst
der dritte Fall. Und von dem weiß man noch nichts." Er seufzte. „Meine
erste Frau ist tatsächlich auf natürliche Weise gestorben. Leider. Damit
entging mir ein Vergnügen. Aber Sie wollten etwas wissen, Morna. Ich habe Ihre
Frage nicht vergessen. Ich bin nur ein bißchen aufgeregt. Das bringt die
Situation so mit sich. Ich bin nicht ganz so abgebrüht wie Marquis Alexandre de
L'Isle. Aber dafür machte der auch einen Fehler. Er fühlte sich zu sicher. Zehn
Frauen konnte er vergiften und auf seine Weise konservieren. Die elfte war
Germaine. Eine geheimnisvolle Schönheit. Man erzählte von ihr, daß sie schon
lange ein Auge auf den Marquis geworfen hatte, der reich, gut aussehend und
angesehen war. Germaine war ebenfalls schon verheiratet gewesen, und es wurde
bekannt, daß sie mehrere Freunde auf ihr Schloß eingeladen hatte - Freunde, die
spurlos verschwanden und von denen man niemals wieder etwas hörte. De L'Isle
ahnte nicht, daß er eine vielfache Mörderin begehrte, die sich ein Hobby daraus
machte, jeden Mann, mit dem sie geschlafen hatte, bei nächstbester Gelegenheit
zu vergiften und in der Familiengruft beizusetzen. Jeder Sarg war
feinsäuberlich mit einem Messingschildchen versehen, auf dem der Name des
Verblichenen und sein Todestag von ihr persönlich eingraviert wurden. Zwei
Gleichgesinnte trafen aufeinander, und keiner kannte das Geheimnis und die
Absicht des anderen. Sie trafen zusammen, und sie liebten sich. De L'Isle sah
schon das neue Opfer für seine Schreckenskammer, 'und Germaine überlegte, auf
welche Weise sie ihren Marquis dazu bringen konnte, ihr alles zu überlassen und
dann das Zeitliche zu segnen. Aber es kam etwas dazwischen. De L'Isle bekam
Wind von der Sache. Und zwar erhielt er eine Warnung von weiblicher Seite,
ausgerechnet von einer Frau, die eifersüchtig auf Germaine war. Sie gab den
Tip. Und de L'Isles Hirn begann zu arbeiten. Er sah sie nun mit anderen Augen.
Germaine kannte sich gut mit Kräutern aus. Hin und wieder bekam sie Besuch von
einer alten Frau, mit der sie stundenlang palaverte. Die Alte sah aus wie eine
Hexe, und Germaine schien eine eifrige Schülerin zu sein. De L'Isle beschloß,
nicht länger zu warten. Er mußte der erste sein, sie durfte nicht zum Zuge
kommen. Er ließ sich für sie etwas Besonderes einfallen: Abends schlug er sie
nieder und fesselte sie. Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf einem Podest
vor der Glaswand und blickte in die Schreckenskammer. De L'Isle erklärte ihr
seine Arbeitsweise und machte sie darauf aufmerksam, daß sie als elftes Opfer
tatsächlich
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