0799 - Gefangen in Choquai
Hofzauberer, als er daran dachte, wie alt und mächtig das schmächtige Wesen sein musste, das da vor ihm auf dem Thron saß. »Aber ich will meinen Diener nicht mit philosophischen Betrachtungen langweilen, die für einen Gelehrten wie dich nur kindisch und banal klingen müssen. Was kann ich für dich tun, Tsa Mo Ra?«
»Ich möchte Euch um Gnade bitten, göttlicher Kuang-shi. Um Gnade für ShaoYu und ihre beiden Schwestern.«
Für eine Sekunde hatte Tsa Mo Ra den Eindruck, als fiele die Temperatur im Raum um mehrere Grad. Doch als der Götterdämon antwortete, schwang kein Zorn in seiner Stimme mit. »Es tut mit Leid, mein Freund, aber ich kann deiner Bitte nicht entsprechen. Das Leben ist ein ewiger Kampf, aber dieser Kampf muss festen Regeln gehorchen. Darauf beruht die ganze Ordnung in Choquai. Wir haben die Jagdtage im südlichen Park, die Zauberduelle und vieles mehr. Es sind diese Rituale, die das Raubtier mit der Zivilisation versöhnen - alles andere wäre reine Anarchie. ShaoYu hatte genug Möglichkeiten, Wu Huan-Tiao herauszufordern. Doch mit ihrem Verbrechen hat sie die Grundlagen unserer Gesellschaft in Frage gestellt. Dafür muss sie sterben.«
Tsa Mo Ra fühlte sich wie betäubt. Er hatte mit diesem Urteilsspruch gerechnet, aber das änderte nichts an den Gefühlen, die ihn zu überwältigen drohten.
»Lass mich dir eine Frage stellen, mein Freund: Liebst du sie noch?«
Der Zauberer zögerte keinen Moment: »Ja, das tue ich!«
»Dann wird es vielleicht dein Herz erleichtern, dass deine Frau nicht als Geächtete sterben wird. Shao Yu hat viel für Choquai getan, und das werde ich ihr nicht vergessen. Sie muss sterben, aber im Tod wird ihr und ihren Schwestern eine Ehre zuteil werden, die sie für uns unsterblich machen wird!«
***
Die Grotte befand sich tief unter dem Palast. Normalerweise fanden hier magische Experimente oder Zauberduelle statt, doch in dieser Nacht würde sie einem anderen Zweck dienen. Der ganze Hof hatte sich versammelt, um der Hinrichtung beizuwohnen.
Kuang-shi wurde flankiert von Tsa Mo Ra und Wu Huan-Tiao. Die beiden Zauberer mieden jeden Blickkontakt. In Wus Gesicht konnte Tsa Mo Ra nicht die geringste Regung erkennen, und er selbst hatte auch nicht vor, sein Innerstes nach Außen zu kehren.
Shao Yu und ihre beiden Schwester standen umringt von Agkar und einem halben Dutzend seiner Tulis-Yon am anderen Ende der natürlich gebildeten Höhle. Sie waren nicht gefesselt. Jeder wusste, dass es von hier keine Flucht mehr gab. Das Schicksal der drei Schwestern war besiegelt.
Tsa Mo Ra hatte Shao Yu am Vorabend ein letztes Mal in ihrer Zelle besucht. Seltsam, wie sich die Dinge verkehren, dachte er. Hatte doch alles in eben so einer Zelle begonnen. Das Gespräch zwischen ihnen war unterkühlt, fast sachlich verlaufen, aber in Yus Augen hatte Tsa Mo Ra den brennenden Vorwurf gelesen: Warum hast du mich verraten ? Doch als er ihr Kuang-shis Urteil übermittelt hatte, hatte sie ihn überrascht. ShaoYu hatte ihm gefasst in die Augen geblickt, einmal kurz genickt und gesagt: »Der Wille des göttlichen Kuang-shi möge geschehen. Ich bin bereit.«
Die Grotte wurde beleuchtet von unzähligen Fackeln. Doch es war nicht nur der nackte Stein, den sie aus der Dunkelheit rissen. Die hintere Höhlenwand bedeckte ein Bild, so kunstvoll, wie Tsa Mo Ra es noch nicht gesehen hatte. Es zeigte Choquai und die umliegende Landschaft in einem Realismus und Detailreichtum, der den Hofzauberer schwindelig werden ließ.
Tsa Mo Ra wusste, dass die besten Künstler des Hofes diese atemberaubende Vision geschaffen hatten, und doch verblüffte ihn dieses Werk zutiefst. Kuang-shi sprach seine Gedanken aus, als er sich mit seiner fast sanften, eindringlichen Stimme an die Anwesenden wandte: »Dieses Bild atmet den Geist von Choquai. Und es wird noch existieren, wenn wir alle längst Geschichte sind. Shao Yu und ihren Schwestern kommt die Ehre zu, dieses Bild zu bewachen, mit ihm und in ihm für alle Ewigkeit. Seid ihr bereit?«
Tsa Mo Ra sah die Entschlossenheit in Shao Yus Blick und das Entsetzen in den Augen ihrer Schwestern. Doch dann nickten alle drei.
ShaoYu suchte den Blick von Tsa Mo Ra und lächelte. Dann sagte sie: »Ja, das sind wir.«
»So sei es!« Ohne Vorwarnung schossen blaue Blitze aus Kuang-shis Händen. Tsa Mo Ra schloss die Augen, als Yu und ihren Schwestern die Lebensenergie ausgesaugt wurde.
Ein letztes Mal spürte er ihre Präsenz in seinem Geist. Mach’s gut, mein Geliebter.
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