08-Die Abschussliste
heftigen Bewegungen von einer Seite zur anderen. Als kämpfte er mal hier, mal dort mit einem unsichtbaren Gegner. Als wäre ihm bewusst, dass er
mir erzählen müsste, wo er gewesen war, und dürfte genau das auf keinen Fall tun. Dieser Widerstreit trieb ihn sichtbar um.
»In der Nacht zum fünften Januar«, begann ich wieder. »Haben Sie da ein Verbrechen verübt?«
Die tief in den Höhlen liegenden Augen erwiderten meinen Blick. Sahen mich unverwandt an.
»Okay«, fuhr ich fort. »Sie müssen sich jetzt entscheiden. War’s ein schlimmeres Verbrechen, als Brubaker von hinten zu erschießen?«
Er schwieg.
»Sind Sie vielleicht nach Washington, D. C., gefahren, um die zehnjährigen Enkelinnen des Präsidenten nacheinander zu vergewaltigen?«
»Nein«, antwortete er.
»Lediglich ein Hinweis dazu«, sagte ich. »In Ihrer Lage wäre das ungefähr das einzige schlimmere Verbrechen, als Brubaker von hinten zu erschießen.«
Er schwieg.
»Los, packen Sie schon aus!«
»Es war eine Privatsache«, sagte er.
»Was für eine Art Privatsache?«
Er gab keine Antwort. Summer seufzte und entfernte sich von ihrer Wandkarte. Auch sie rechnete sich allmählich aus, dass Trifonow wohl nicht in Columbia, South Carolina, gewesen war. Sie sah mit hochgezogenen Augenbrauen zu mir. Trifonow bewegte sich auf seinem Stuhl. Die Handschellen klirrten am Metall der Stuhlbeine.
»Was geschieht mit mir?«, fragte er.
»Hängt davon ab, was Sie getan haben«, antwortete ich.
»Ich habe einen Brief bekommen.«
»Post zu bekommen, ist kein Verbrechen.«
»Vom Freund eines Freundes.«
»Erzählen Sie mir von dem Brief.«
»Er war von einem Mann in Sofia.«
Er hockte nach vorn gebeugt auf dem Stuhl und berichtete uns von dem Brief. Dabei stellte er die Sache so dar, als hätte sie etwas einzigartig Bulgarisches an sich. Aber im Grund genommen hätte jeder von uns diese Story erzählen können.
In Sofia lebte ein Mann. Er hatte eine Schwester. Diese Schwester, eine nicht unbegabte Turnerin, war als Mitglied eines bulgarischen Studententeams in Kanada geblieben und von dort aus in die Vereinigten Staaten gelangt. Sie hatte einen Amerikaner geheiratet und wurde eingebürgert. Ihr Ehemann hatte sich als Schuft erwiesen, und das berichtete sie ihrem Bruder. In langen Briefen, die von Schlägen, Beleidigungen, Grausamkeit und Isolation erzählten. Das Leben der Schwester war die Hölle. Die kommunistische Zensur hatte die Briefe passieren lassen, denn alles, was Amerika herabsetzte, war in ihren Augen in Ordnung. Der Bruder in Sofia hatte einen Freund mit Verbindung zur Dissidentenszene in der Hauptstadt. Der Freund kannte auch Trifonows Adresse in Fort Bird in North Carolina. Vor seiner Flucht in die Türkei hatte Trifonow mit den Dissidenten in Verbindung gestanden. Der Freund gab einen Brief des Mannes in Sofia einem Kerl mit, der in Österreich Ersatzteile für Maschinen einkaufte. Bei seiner nächsten Auslandsreise gab dieser den Brief in Österreich auf. So war der Brief nach Fort Bird gelangt. Trifonow hatte ihn früh am Morgen des zweiten Januar bei der Postausgabe in Empfang genommen. Der Umschlag trug seinen Namen und seine Adresse in kyrillischer und lateinischer Schrift und war mit ausländischen Briefmarken und Luftpostaufklebern bepflastert.
Trifonow las den Brief in der Einsamkeit seiner Zelle. Er wusste, was man von ihm erwartete. Zeit, Entfernung und Beziehungen wurden unter dem Druck nationalistischer Loyalität so komprimiert, dass er das Gefühl hatte, hier werde seine eigene Schwester misshandelt. Die Frau lebte in der Nähe von Cape Fear - ein angesichts ihrer Lage sehr symbolträchtiger Ortsname, fand Trifonow. Er war in die Schreibstube gegangen, um auf der großen Wandkarte nachzusehen, wo dieser Ort lag.
Sein nächster freier Abend würde der vierte Januar sein. Er hatte einen Plan gemacht und eine kleine Rede eingeübt, die davon handelte, dass es nicht ratsam sei, eine Bulgarin zu misshandeln, die im Umkreis von wenigen Autostunden Freunde besaß.
»Haben Sie den Brief noch?«, fragte ich.
Er nickte. »Aber Sie werden ihn nicht lesen können, weil er auf Bulgarisch geschrieben ist.«
»Was hatten Sie in dieser Nacht an?«
»Zivilsachen. Ich bin schließlich nicht dumm.«
»Was für Zivilsachen?«
»Lederjacke. Jeans. Hemd. Alles in Amerika gekauft. Sonst habe ich keine Zivilsachen.«
»Was haben Sie mit dem Kerl angestellt?«
Er schüttelte den Kopf. Wollte nicht antworten.
»Okay«, sagte ich.
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