08-Die Abschussliste
erste Klasse der Air France mir doch lieber war. Das Transportation Corps hatte keine Stewardessen und schenkte unterwegs keinen Kaffee aus.
Wir starteten mit etwas Verspätung nach Westen gegen den Wind. Dann flogen wir eine langsame Hundertachtziggradkurve über Washington und nahmen Kurs nach Osten. Irgendwo dort unten schlief Joe.
In Reiseflughöhe fühlte sich die Rumpfwand sehr kalt an, weshalb wir uns alle mit den Ellbogen auf den Knien nach vorn lehnten. Der Lärm verhinderte jegliche Unterhaltung. Ich starrte eine Palette mit Panzermunition an, bis sie vor meinen Augen verschwamm und ich wieder einschlief. Es war nicht gerade bequem, aber bei der Army lernt man, überall zu schlafen. Ich wachte ungefähr zehnmal auf und verbrachte den größten Teil des Flugs in einer Art Scheintod. Das Dröhnen der Triebwerke und das Rauschen des Luftstroms taten das ihre.
Wir waren fast acht Stunden in der Luft, bis wir unseren Landeanflug begannen. Es gab keine Bordsprechanlage. Keine aufmunternde Ankündigung des Piloten. Nur eine Veränderung des Triebwerklärms, ein schlingerndes Sinken und ein Knacken in den Ohren. Überall um mich herum standen Leute auf und streckten sich. Summer rieb ihren Rücken wie eine Katze an einer Munitionskiste. Sie sah ziemlich gut aus. Ihr Haar war zu
kurz, um zerzaust zu sein, und ihre Augen blitzten. Sie sah entschlossen aus, als wäre ihr bewusst, dass vor ihr Ruhm oder Verderben lagen und sie sich damit abgefunden hatte, nicht zu wissen, was ihr bevorstand.
Wir nahmen alle wieder Platz und hielten uns bei der Landung an den Gurtsitzen fest. Das Fahrwerk setzte auf, die Schubumkehr heulte auf, und die Radbremsen griffen. Die Paletten ruckten gegen die Haltegurte nach vorn. Dann ließ die Bremsverzögerung nach, und wir rollten eine Weile, bis wir endlich zum Stehen kamen. Die Heckrampe wurde herabgelassen, und in der Öffnung zeigte sich ein Stück grauer Abendhimmel. In Deutschland war es bereits fünf Uhr abends, sechs Stunden früher als an der US-Ostküste, eine Stunde vor der militärischen Zulu-Zeit. Ich hatte einen Bärenhunger. Seit dem Hamburger vom Vortag in Sperryville hatte ich nichts mehr zu beißen bekommen. Summer und ich nahmen unser Gepäck und reihten uns in die Schlange ein. Schlurften mit den anderen die Heckrampe hinunter und übers Vorfeld. Das Wetter war kalt und kam mir wie in North Carolina vor.
Wir befanden uns irgendwo im hintersten Winkel des militärischen Teils des Frankfurter Flughafens. Ein Militärbus brachte uns zu einem der Terminals. Ab dort waren wir auf uns selbst gestellt. Einige der anderen Passagiere wurden abgeholt, aber uns erwartete niemand. Wir stellten uns mit einer Gruppe von Zivilisten am Taxistand an. Rückten Schritt für Schritt vor. Als wir an der Reihe waren, gaben wir dem Fahrer einen Reisegutschein und nannten als Fahrtziel das Hauptquartier des XII. Korps. Das war ihm nur recht. Er konnte unseren Gutschein bei jeder US-Dienststelle einlösen und auf der Rückfahrt bestimmt ein paar Männer vom XII. Korps mitnehmen, die Frankfurt unsicher machen wollten. Also kein Warten und keine Leerfahrt. Er lebte hauptsächlich von der U.S. Army, wie es viele Deutsche seit viereinhalb Jahrzehnten taten. Er fuhr einen Mercedes-Benz.
Die Fahrt dauerte eine halbe Stunde. Wir fuhren durch Vororte
nach Osten. Sie sahen wie viele westdeutsche Wohngebiete aus. Beherrscht wurden sie von weitläufigen Siedlungen mit blass honigfarbenen Gebäuden aus den fünfziger Jahren. Die neuen Wohnanlagen verliefen in scheinbar zufälligen Kurven von West nach Ost - auf den ehemaligen Routen der alliierten Bomberströme. Kein Land hatte jemals einen Krieg so gründlich verloren wie Deutschland. Auch ich kannte die 1945 aufgenommenen Bilder von Trümmerlandschaften. Niederlage war ein zu harmloses Wort dafür. Armageddon wäre treffender gewesen. Das ganze Land war von einem Moloch in Trümmer gelegt worden. Die Spuren davon würden für ewig in der Architektur sichtbar bleiben. Und unter der Architektur. Hob eine Telefonfirma einen Kabelgraben aus, fand sie Schädel und Knochen, Teetassen, Granaten und verrostete Panzerfäuste. Bei jedem großen Bauvorhaben stand ein Geistlicher bereit, bevor die Bagger den Aushub begannen. Ich war in Berlin geboren: inmitten von Amerikanern, von vielen Quadratkilometern notdürftig instand gesetzter Ruinen umgeben. Sie haben angefangen, sagten wir immer.
Die Straßen in den Vororten wirkten ordentlich und sauber.
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