08-Die Abschussliste
Gepäckstücke hatten warten müssen. Menschen in der Menge wandten sich ihnen erwartungsvoll zu und wieder von ihnen ab, wenn sie feststellten, dass es sich nicht um die Richtigen handelte. Ich verfolgte dieses Spiel eine Weile. Dazu gehörte eine interessante körperliche Dynamik. Minimale Haltungsänderungen genügten, um erst Interesse, dann Desinteresse zu bekunden. Eine halbe Drehung nach innen, dann eine halbe Drehung auswärts. Manchmal wurde auch nur das Körpergewicht von einem Fuß auf den anderen verlagert.
Unter die letzten Nachzügler mischte sich schon die Vorhut der Passagiere aus Joes Maschine. Geschäftsleute mit Trolleys und Aktenkoffern hasteten an uns vorbei. Wir sahen teuer angezogene junge Frauen mit hochhackigen Schuhen und Sonnenbrillen. Models? Schauspielerinnen? Callgirls? Dazwischen französische und amerikanische Staatsdiener, die sehr leicht zu erkennen waren. Smart und ernsthaft, viele mit Brille, doch ihr Outfit wirkte nicht wirklich erstklassig. Vermutlich niedrigrangige
Diplomaten. Schließlich kam die Maschine aus Washington, D. C.
Joe taucht an ungefähr zwölfter Stelle auf. Zu dem Mantel, den ich schon kannte, trug er einen anderen Anzug und eine andere Krawatte. Er sah gut aus, ging rasch und hatte als einziges Gepäckstück eine Reisetasche aus schwarzem Leder dabei. Er war einen halben Kopf größer als alle Leute in seiner Umgebung. Als er aus der Tür trat, blieb er stehen und schaute sich um.
»Er sieht genau wie du aus«, meinte Summer.
»Aber ich bin netter«, sagte ich.
Er entdeckte mich sofort, weil ich meine Umgebung ebenfalls um einen halben Kopf überragte. Ich deutete auf eine Stelle außerhalb des Menschenstroms. Joe bahnte sich einen Weg durch die Menge. Wir beschrieben einen Bogen und trafen dort mit ihm zusammen.
»Leutnant Summer«, sagte er. »Freut mich sehr, Sie kennen zu lernen.«
Mir war nicht aufgefallen, dass er einen Blick auf die Aufnäher Summer, U.S. Army auf ihrem Kampfanzug oder die Rangabzeichen an ihrem Kragen geworfen hatte. Er musste sich ihren Namen und Dienstgrad gemerkt haben, als ich sie in einem früheren Gespräch erwähnte.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich ihn.
»Ein bisschen müde«, antwortete er.
»Willst du frühstücken?«
»Erst in der Stadt.«
Die Warteschlange am Taxistand war unendlich lang und bewegte sich kaum. Wir hielten geradewegs wieder auf die Navettes zu. Ein Bus fuhr uns vor der Nase weg, aber dafür standen wir in der Schlange ganz vorn. Der nächste Bus kam keine zehn Minuten später. Joe verbrachte die Wartezeit damit, Summer nach ihrem Besuch in Paris zu fragen. Sie erzählte ihm alles - nur nichts von den Ereignissen nach Mitternacht. Ich stand mit dem Rücken zur Fahrbahn am Randstein und betrachtete den
Morgenhimmel über dem Terminal. Es wurde rasch hell. Auch dieser Tag würde wieder sonnig werden. Wir schrieben den zehnten Januar, und das Pariser Wetter war das in dem neuen Jahrzehnt bisher beste.
Wir bestiegen den Bus und ergatterten die drei Längssitze gegenüber der Gepäckablage. Sie waren schmal und unbequem. Harter Kunststoff. Nicht viel Beinfreiheit. Joes Kopf schwankte, und er sah blass aus. Mir war klar, dass eine Busfahrt nach einem Nachtflug über den Atlantik nicht gerade zum Angenehmsten zählte, was das Leben zu bieten hatte. Aber ich fand, dass es besser sei, mit dem Bus zu fahren, als eine Stunde auf ein Taxi zu warten.
Joe wurde etwas munterer, als wir die Périphérique durchquerten und die urbane Pracht des Boulevard Haussmann erreichten. Unterdessen war die Sonne aufgegangen und tauchte die Stadt in honiggelbes Licht. Die Cafés waren bereits gut besucht, und auf den Gehsteigen viele Leute mit Baguettes oder Zeitungen unter dem Arm unterwegs.
Wir stiegen wie gewohnt an der Endstation auf der Place de l’Opéra aus, wandten uns nach Süden, überquerten die Seine auf dem Pont de la Concorde, bogen nach Westen auf den Quai d’Orsai ab, folgten der Avenue Rapp nach Süden und kamen bis zur Rue de l’Université, wo man den Eiffelturm sehen konnte. Dort blieb Summer stehen.
»Ich besichtige den Eiffelturm«, erklärte sie, »während ihr beide eure Mutter besucht.«
Joe sah mich an. Weiß sie’s? Ich nickte. Sie weiß Bescheid.
»Danke, Leutnant«, sagte er. »Wir schauen mal, wie’s ihr geht. Fühlt sie sich der Anstrengung gewachsen, könnten Sie vielleicht mit uns zu Mittag essen.«
»Ruft mich im Hotel an.«
»Weißt du, wo es liegt?«
Sie drehte sich um, deutete
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