08-Die Abschussliste
Zeit war gekommen. Das habe ich schon mehrmals erlebt. Möchten Sie sie sehen?«
»Joe?«, sagte ich. Er schüttelte den Kopf. Blieb auf dem Sofa sitzen. Ich ging ins Schlafzimmer. Auf mit Samt gepolsterten Böcken neben dem Bett stand ein Mahagonisarg. Er war mit weißer Seide ausgeschlagen und leer. Die Leiche unserer Mutter lag noch im Bett, die Decke war über ihr glatt gezogen. Ihr Kopf ruhte auf dem Kissen; die Arme waren über der Decke auf der Brust gekreuzt und die Augen geschlossen. Ich erkannte sie kaum wieder.
Summer hatte mich gefragt: Macht’s Ihnen was aus, Tote zu sehen?
Nein, hatte ich geantwortet.
Warum nicht?, hatte sie mich gefragt.
Weiß ich nicht, hatte ich gesagt.
Die Leiche unseres Vaters hatte ich damals nicht zu sehen bekommen. Bei seinem Tod war ich auf Reisen gewesen. Er starb an Herzversagen. Irgendein Krankenhaus für Veteranen hatte sich um ihn bemüht, aber die Sache war von Anfang an hoffnungslos gewesen. Ich war am Morgen vor der Beerdigung mit dem Flugzeug angekommen und noch am gleichen Abend wieder abgereist.
Beisetzung, dachte ich.
Darum kümmert Joe sich.
Ich blieb noch fünf lange Minuten am Bett meiner Mutter - ohne eine einzige Träne. Dann wandte ich mich ab und ging zurück ins Wohnzimmer. Die Croque - morts, die Sargträger, waren wieder da. Die Sargträger. Und auf dem Sofa neben Joe saß steif ein alter Mann. Neben ihm standen zwei Krückstöcke. Er hatte schütteres weißes Haar und trug einen dunklen Anzug mit einer kleinen Ordensrosette im Knopfloch. Rot, weiß und blau, vielleicht das Croix de Guerre oder die Médaille de la Résistance. Auf seinen knochigen Knien balancierte er eine Pappschachtel, um die ein ausgebleichtes rotes Band geknotet war.
»Das ist Monsieur Lamonnier«, erklärte Joe. »Freund der Familie.«
Der alte Knabe griff nach seinen Stöcken und wollte sich hochstemmen, um mir die Hand zu schütteln, aber ich machte eine abwehrende Bewegung und war mit ein paar raschen Schritten bei ihm. Ich schätzte ihn auf fünfundsiebzig oder achtzig Jahre. Er war hager und dürr und für einen Franzosen ziemlich groß.
»Sie sind der, den sie Reacher genannt hat«, sagte er.
Ich nickte.
»Der bin ich«, erwiderte ich. »Aber ich kann mich nicht an Sie erinnern.«
»Wir sind uns nie begegnet. Aber ich kenne Ihre Mutter seit vielen Jahren.«
»Danke, dass Sie vorbeigekommen sind.«
»Ebenfalls«, sagte er.
Touché, dachte ich.
»Was ist in der Schachtel?«, fragte ich.
»Dinge, die sie nicht hier aufbewahren wollte«, antwortete der Alte. »Aber Dinge, die nach ihrem Tod ihre Söhne erhalten sollten, finde ich.«
Lamonnier übergab mir die Pappschachtel, als entledige er sich damit einer heiligen Bürde. Ich klemmte sie mir unter den Arm. Sie war weder schwer, noch leicht und ich vermutete, dass sie ein Buch enthielt. Vielleicht ein altes in Leder gebundenes Tagebuch. Und irgendwelche anderen Sachen.
»Joe«, sagte ich. »Komm, wir gehen frühstücken.«
Wir gingen rasch und ohne bestimmtes Ziel. Bogen auf die Rue Dominique ab und liefen an zwei Cafés in der Rue de l’Exposition vorbei, ohne sie zu beachten. Überquerten die Avenue Bosquet, obwohl die Fußgängerampel Rot zeigte, und schwenkten dann willkürlich links in die Rue Jean Nicot ein. Joe blieb bei einem Tabac stehen und besorgte sich Zigaretten. Ich hätte gelächelt, wenn ich dazu imstande gewesen wäre. Diese Straße war nach dem Mann benannt, der das Nikotin entdeckt hatte.
Wir zündeten uns auf dem Gehsteig stehend Zigaretten an und betraten dann das nächste Café, das wir sahen. Es wurde Zeit, miteinander zu reden.
»Du hättest nicht auf mich warten dürfen«, begann Joe. »Du hättest sie ein letztes Mal besuchen sollen.«
»Ich hab gespürt, wie’s passiert ist«, sagte ich. »Gestern um Mitternacht hatte ich ein komisches Gefühl.«
»Du hättest bei ihr sein können.«
»Das lässt sich nicht mehr ändern.«
»Ich hätte nichts dagegen gehabt.«
»Sie hätte es nicht gewollt.«
»Wir hätten letzte Woche bleiben sollen.«
»Das wollte sie nicht, Joe. Es hätte nicht in ihren Plan gepasst. Sie war ein selbstständiger Mensch, hatte ein Anrecht auf eigene Entscheidungen. Sie war unsere Mutter, aber eben nicht nur das.«
Er schwieg. Der Ober brachte uns Kaffee und ein Körbchen mit Croissants. Er schien unsere bedrückte Stimmung zu spüren und verschwand eiligst.
»Kümmerst du dich um die Bestattung?«, fragte ich.
Er nickte. »Ich lasse sie in
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