08 - Ehrenschuld
Wandfarbe war zu einem öden, unangenehmen Gelb verblichen. Auch hier waren die Mächtigen tief gesunken, und das galt besonders für das Office of Strategie Weapons Research. Einst eine der bedeutendsten Unterabteilungen der CIA, kam das OSWR jetzt gerade so über die Runden.
Hier arbeiteten Raketenforscher, deren Arbeitsplatzbeschreibung wirklich ihrer Tätigkeit entsprach. Sie schauten sich die Spezifikationen von Raketen ausländischer Herstellung an und zogen daraus Schlüsse bezüglich ihrer tatsächlichen Einsatzmöglichkeiten. Das bedeutete eine Menge theoretischer Arbeit, aber auch Reisen zu amerikanischen Rüstungsfirmen, um deren Wissen mit den eigenen Erkenntnissen zu vergleichen. Leider sofern man hier »leider« sagen durfte - waren die ICBMs und SLBMs (landgestützte und von U-Booten aus abgefeuerte Interkontinentalraketen), von denen das OSWR gelebt hatte, nahezu ausgestorben, und die Fotos an den Wänden der einzelnen Büros stimmten in ihrer Bedeutungslosigkeit beinahe wehmütig. Mitarbeiter, die auf verschiedene Fachbereiche der Physik spezialisiert waren, mußten sich mittlerweile über chemische und biologische Wirkstoffe kundig machen, die Massenvernichtungswaffen ärmerer Länder. Aber nicht heute.
Chris Scott, vierunddreißig, hatte beim OSWR angefangen, als es noch etwas bedeutet hatte. Er, der am Rensselaer Polytechnic Institute studiert hatte, hatte sich dadurch hervorgetan, daß er die Leistung der sowjetischen SS-24 zwei Wochen früher berechnet hatte, als man durch ein Exemplar des Handbuchs für diese Feststoffrakete erfuhr, das ein hochgestellter Agent beschafft hatte. William Webster, der damalige Direktor, hatte ihm dafür freundlich den Kopf getätschelt. Doch die SS-24 waren inzwischen alle verschwunden, und heute morgen hatte er seinen Infounterlagen entnommen, daß nur noch eine SS-19 übrig war, der eine einzige Minuteman-III außerhalb von Minot, North Dakota, gegenüberstand, und daß beide in Kürze zerstört werden sollten. Er hatte keine Lust, Chemie zu studieren, und so waren die Dias aus Japan ihm sehr willkommen.
Scott ließ sich Zeit. Er hatte ja viel davon. Er machte die Schachtel auf, schob die Dias in seinen Betrachter ein und ließ sie durchlaufen, wobei er sich zu jedem einzelnen Notizen machte. Damit hatte er zwei Stunden zu tun, und dann war Mittagspause. Er packte die Dias wieder ein und schloß sie weg, bevor er sich zur Cafeteria im Erdgeschoß begab. Diskussionsthema dort waren der jüngste Sündenfall der Washington Redskins und die Chancen des neuen Eigentümers, sie wieder auf die Beine zu bringen. Die Leute dehnten ihre Mittagspause aus, wie Scott bemerkte, ohne daß die Vorgesetzten davon ein Aufhebens machten. Im Hauptkorridor, der das Gebäude durchquerte und auf den Hof hinausging, herrschte durchweg stärkerer Verkehr als früher, und die Leute betrachteten endlos das große Teilstück der Berliner Mauer, das dort seit Jahren aufgestellt war. Besonders die alten Hasen, wie es Scott vorkam, der sich selbst als einer von ihnen empfand. Na ja, wenigstens er hatte heute Arbeit, und das war doch eine willkommene Abwechslung.
Zurück in seinem Büro, zog Chris Scott die Vorhänge zu und lud die Dias in einen Projektor. Er hätte nur die auswählen können, zu denen er sich spezielle Notizen gemacht hatte, aber dies war seine Beschäftigung für den ganzen Tag und, falls er es geschickt anstellte, für eine ganze Woche. Er wollte mit der gewohnten Gründlichkeit vorgehen und das, was er sah, mit dem Bericht des Typs von der NASA vergleichen.
»Darf ich reinkommen?« Betsy Fleming schaute zur Tür herein. Sie gehörte zu den Routiniers, würde in Kürze Großmutter werden und hatte eigentlich als Sekretärin bei der DIA, dem Nachrichtendienst des Pentagons, angefangen. Als Autodidaktin auf den Gebieten der Fotoanalyse und der Raketentechnik hatte sie schon während der Kubakrise ihre ersten Erfahrungen gesammelt. Auch ohne förmlichen Studienabschluß kannte sie sich auf diesem Arbeitsgebiet hervorragend aus.
»Natürlich.« Scott hatte nichts gegen die Störung. Betsy war zugleich die Adoptivmutti der ganzen Abteilung.
»Unsere alte Freundin, die SS-19«, bemerkte sie und setzte sich. »Mann, das gefällt mir, was sie aus ihr gemacht haben.«
»Toll, nicht wahr?« sagte Scott und streckte sich, um die Schläfrigkeit nach dem Essen abzuschütteln.
Aus dem häßlichen Vogel von einst war etwas sehr Schönes geworden. Der Rumpf der Rakete bestand aus
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