08 - Ehrenschuld
sprachen die Börsenvorstände, ganz im Widerspruch zu einschlägigen Bundesrichtlinien, miteinander über mögliche Gegenmaßnahmen, kamen aber trotz der langjährigen Erfahrung, die sie gemeinsam verkörperten, zu dem Schluß, daß im Augenblick nichts zu machen sei.
Inzwischen hingen in ganz Amerika private Anleger am Telefon und blockierten die Leitungen. Diejenigen, deren Fonds von Banken verwaltet wurden, erfuhren etwas besonders Beunruhigendes. Aber ja doch, ihre Geldanlage sei in der Hand der Bank, versicherte man ihnen. Gewiß, die Bank sei durch das Einlagensicherungsgesetz abgesichert. Aber nein, die Investmentfonds, die die Banken betrieben, um den Interessen ihrer Einleger zu dienen, seien nicht durch das Einlagensicherungsgesetz geschützt. Auf dem Spiel stünden nicht nur die Zinseinkünfte, sondern auch das Kapital selbst. Daraufhin trat im allgemeinen ein Schweigen ein, das rund zehn Sekunden dauerte. In nicht wenigen Fällen stiegen die Leute anschließend ins Auto und fuhren zur Bank, um sich ihre sonstigen Guthaben in bar auszahlen zu lassen.
Der New Yorker Börsenticker hinkte inzwischen trotz der Hochgeschwindigkeitsrechner, die die sich ständig ändernden Aktienwerte festhielten, um vierzehn Minuten hinter der Entwicklung her. Einige Aktien wurden sogar höher notiert, aber dabei handelte es sich vorwiegend um Edelmetalle. Alles andere ging zurück. Jetzt brachten alle großen Sender Live-Berichte von der Wall Street. Jetzt wußte es jeder. Cummings, Cantor and Carter, einer Firma, die seit hundertzwanzig Jahren im Geschäft war, gingen die flüssigen Mittel aus, und der Vorsitzende rief in seiner Not bei Merrill Lynch an. Der Vorsitzende dieses größten Hauses kam dadurch in eine schwierige Lage. Er, der älteste und gewiefteste Profi weit und breit, hatte sich eine halbe Stunde vorher beinahe die Hand gebrochen, als er mit der Faust auf den Schreibtisch schlug und Antworten verlangte, die keiner wußte. Tausende von Menschen kauften nicht nur über seine Firma Aktien, sondern auch Aktien dieser Firma selbst, wegen ihrer Marktkenntnis und ihres unantastbaren Rufs. Jetzt konnte der Vorsitzende einen strategischen Schachzug machen, um die befreundete Firma, ein Bollwerk des gesamten Systems, vor einer Panik zu retten, die jeglicher Grundlage entbehrte, er konnte aber auch jede Hilfe verweigern, um das Geld seiner Aktionäre nicht zu gefährden. Für dieses Dilemma gab es keine befriedigende Lösung. Die Weigerung, CC&C zu helfen, würde - oder könnte - die Panik weiter steigern und den Markt dermaßen beschädigen, daß das Geld, das er sparte, indem er der anderen Firma nicht half, ohnehin bald verloren sein würde. Half er dagegen CC&C, konnte sich das als eine bloße Geste herausstellen, die nichts zu ändern vermochte, und auch in diesem Fall würde er Geld verlieren, das anderen gehörte.
»Verdammte Kacke«, stöhnte der Vorsitzende und blickte zum Fenster hinaus. Einer der Spitznamen seines Hauses lautete »Die donnernde Herde«. Tja, jetzt paßte es: Die Herde war wirklich am Donnern. Er wog seine Verantwortung gegenüber seinen Aktionären gegen seine Verantwortung für das gesamte System ab, von dem sie und alle anderen abhingen. Er mußte dem ersteren den Vorzug geben. Er mußte. Er hatte keine Wahl. So schleuderte einer der bedeutendsten Akteure des Systems das ganze Finanznetz über die Klippe in den gähnenden Abgrund. Der Handel auf dem Börsenparkett wurde um 15.23 Uhr eingestellt, als der Dow mit fünfhundert Punkten seinen tiefsten zulässigen Absturz erreichte. Der Dow Jones drückte lediglich den Wert von dreißig erstklassigen Aktien aus, und bei anderen Papieren ging der Verlust noch weit darüber hinaus. Der Ticker brauchte noch dreißig Minuten, um den aktuellen Stand einzuholen, so daß man der Täuschung erliegen konnte, das Geschäft gehe weiter. Derweil standen die Händler schweigend auf dem Parkett herum, das von Zetteln dermaßen übersät war, daß man meinen konnte, es habe geschneit. Es war Freitag, sagte sich jeder. Morgen war Samstag. Alle würden zu Hause sein. Alle würden Gelegenheit haben, tief durchzuatmen und nachzudenken. Mehr war im Grunde doch nicht nötig. Nur ein bißchen Nachdenken. Das alles war doch unbegreiflich. Viele Leute hatten schlimme Verluste erlitten, aber der Markt würde sich wieder erholen, und diejenigen, die couragiert und gewitzt genug waren, eine Durststrecke durchzustehen, würden am Ende alles wieder wettmachen. Sofern,
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