08 - Ehrenschuld
sehen, wie es losging. Die Leute im Saal waren hektischer als sonst. Inzwischen waren alle da, und das Getöse nahm ohrenbetäubende Ausmaße an. Es war immer ein schlechtes Zeichen, wenn die Leute anfingen zu schreien. Die elektronische Anzeige sagte alles. Die Blue Chips, erstklassige Werte, deren aus drei Buchstaben bestehende Abkürzungen ihm so vertraut waren wie die Namen seiner Kinder, machten mehr als ein Drittel aller Umsätze aus, und die Zahlen trudelten steil abwärts. In nur zwanzig Minuten fiel der Dow Jones um fünfzig Punkte, und so schrecklich das auch war, schuf es doch Erleichterung. Die Computer der New Yorker Börse hörten automatisch auf, Verkaufsorders von ihren elektronischen Brüdern zu akzeptieren. Die Fünfzig-Punkt-Marke war eine »Rüttelschwelle«. Nach dem Krach von 1987 eingerichtet, sollte sie die Entwicklung auf ein menschenverträgliches Tempo herunterbremsen. Doch eines hatten alle übersehen: Menschen konnten die Anweisungen ihrer Computer - sie dachten längst nicht mehr daran, in ihnen bloße Empfehlungen zu sehen - nehmen und die auf dem Bildschirm erscheinenden Verkaufsorders selber per Telefon oder Telex oder E-Mail weitergeben. Die Rüttelschwelle bewirkte lediglich, daß die Transaktionen sich um dreißig Sekunden verzögerten. So kam es, daß nach einer Unterbrechung von einer knappen Minute das hektische Geschäft und die Abwärtsentwicklung weitergingen.
Inzwischen war die gesamte Finanzwelt von echter Panik erfaßt. Bei den großen Institutionen saßen die Händler fassungslos vor ihren Computern. CNN brachte eine Sondersendung direkt vom Börsenparkett. Die Anleger, die lieber von menschlicheren Dingen unterrichtet worden wären, konnten auf dem Börsenticker sehen, was los war. Andere erfuhren jetzt aus dem Mund eines realen menschlichen Wesens, daß der Dow Jones Index im Handumdrehen um fünfzig Punkte gefallen war und inzwischen nochmals um zwanzig Punkte nachgegeben hatte und daß eine Umkehr der Abwärtsspirale nicht zu erkennen sei. Der Moderator in Atlanta wollte von der Reporterin wissen, was die Ursache dieser Entwicklung sei, und da sie ihre Informanten in der Eile nicht danach gefragt hatte, improvisierte sie drauflos und sagte, es gebe einen weltweiten Run auf den Dollar, den die Fed leider nicht unterbunden habe. Etwas Schlimmeres hätte ihr nicht einfallen können. Jetzt wußte sozusagen jeder, was los war, und die Leute wurden von der Panik angesteckt.
Die Anlageprofis, die verächtlich auf die Leute herabschauten, weil sie vom Anlagegeschäft nichts verstanden, verkannten indes, daß sie selbst einen wesentlichen Punkt mit den Laien gemein hatten. Die Leute nahmen lediglich zur Kenntnis, ob der Dow Jones stieg - das war gut - oder ob er sank - das war schlecht. Für die Händler die glaubten, das System wirklich verstanden zu haben, lief es aufs selbe hinaus. Sie verstanden zwar sehr viel mehr von den Mechanismen des Marktes, aber sie wußten eigentlich nicht mehr, worauf der Wert der von ihnen gehandelten Papiere beruhte. Für sie wie für das Laienpublikum hatte sich die Realität auf Trends reduziert, und ihre Trenderwartungen drückten sie oft durch sogenannte Derivate aus, veränderliche numerische Indikatoren, bei denen immer weniger zu erkennen war, ob sie mit der Realität, die von den einzelnen Aktien repräsentiert wurde, überhaupt noch etwas zu tun hatten. Aktienzertifikate waren schließlich nichts Theoretisches, sondern ganz reale Anteilsscheine am Kapital von Firmen, die eine greifbare Realität besaßen. Die Modelltheoretiker vor ihren Computern hatten das aus den Augen verloren, und mochten sie in mathematischen Modellen und Trendanalyse auch noch so bewandert sein, war ihnen doch der reale Wert dessen, womit sie handelten, fremd - die Tatsachen waren theoretischer geworden als die Theorie, die nun vor ihren Augen versagte. Da sie das, was sie taten, im Grunde nicht durchschauten und keinen Anker hatten, an dem sie sich festhalten konnten in dem Sturm, der jetzt durch den Raum und durch das gesamte Finanzsystem fegte, wußten sie schlicht und einfach nicht, was sie tun sollten, und den wenigen Vorgesetzten, die es ihnen hätten sagen können, fehlten die Zahlen und die Zeit, um ihre jungen Händler zu beruhigen.
Das alles war im Grunde nicht zu verstehen. Der Dollar hätte eigentlich stark sein und nach einigen geringfügigen Schwankungen noch stärker werden müssen. Die Citibank hatte gerade einen positiven, wenn nicht gar
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