08 - Im Angesicht des Feindes
durchdrang. Lottie öffnete die Augen.
Sie stieß einen unterdrückten Schrei aus, weil die plötzliche Helligkeit so weh tat. Diesmal war es nicht der gedämpfte Schein einer Laterne, sondern richtiges Licht, Sonnenlicht. Es fiel grell durch eine Tür in der Mauer, und eine Sekunde lang war sonst nichts zu sehen. Nur das Licht, so hell, daß man die Augen abwenden mußte. Sie fühlte sich wie ein Maulwurf, als sie blinzelnd zurückschreckte und sich mit einem Aufschrei noch kleiner zusammenrollte.
Dann sah sie ihn durch die Schlitze zwischen ihren Lidern. Er trat an die offene Tür und blieb dort stehen, umrahmt von dem Licht hinter ihm. Im Dreieck seiner Beine konnte sie die Farbe Blau und Grün sehen, und sie dachte an hellen Tag und Himmel und Bäume, aber sie konnte nichts erkennen, weil sie ihre Brille nicht hatte.
»Ich brauch' meine Brille«, murmelte sie.
»Nein«, sagte er. »Die brauchst du nicht. Du brauchst deine Brille nicht.«
»Aber ich -«
»Halt die Klappe!«
Lottie kroch tiefer in ihre Decke. Sie konnte seine Gestalt erkennen, aber im Gegenlicht, das so hell war, so grell, als wollte es sie verschlingen, konnte sie sonst nichts erkennen. Außer seinen Händen. Er hatte Handschuhe an. In der einen Hand hielt er die rote Thermosflasche. In der anderen hielt er etwas, was wie eine Röhre aussah. Lottie fixierte die Thermosflasche durstig. Saft, dachte sie. Kalt und süß und naß. Doch anstatt die Thermosflasche aufzuschrauben und ihr etwas einzugießen, warf er die Röhre auf die Ziegelsteine neben ihrem Kopf. Sie starrte sie mit zusammengekniffenen Augen an und sah, daß es eine Zeitung war.
»Dein Papa hat nicht die Wahrheit gesagt«, sagte er. »Dein Papa hat kein einziges Wort gesagt. Ist das nicht echt Pech, Lottie, hm?«
Er hatte so etwas in der Stimme ... Lotties Augen begannen zu brennen, und ihre Kehle zog sich zusammen. Sie murmelte:
»Ich hab's Ihnen doch gesagt. Ich hab's Ihnen extra gesagt. Cito kann keine richtigen Geschichten erzählen.«
»Ja, das ist ein Problem, was? Aber das macht nichts, er braucht nur einen kleinen Tritt. Und den geben wir beide ihm, du und ich. Also, machst du mit?«
»Ich wollt's ihm doch sagen ...« Lottie versuchte zu schlucken. Sie streckte einen Arm nach der Thermosflasche aus. »Ich hab' Durst«, sagte sie. Sie wollte ihren Kopf von den Ziegelsteinen heben, sie wollte in das Licht hinter ihm laufen, aber sie schaffte es nicht. Sie schaffte überhaupt nichts. Sie fühlte die Tränen, die ihr aus den Augenwinkeln rannen.
Wie ein kleines Baby, hätte Breta gesagt.
Mit dem Fuß stieß er die Tür zu. Sie schloß sich nicht ganz. Ein schmaler Lichtstrahl blieb, der Lottie verriet, wo sie war. Ein Lichtstrahl, der ihr sagte, in welche Richtung sie laufen mußte.
Aber ihre Glieder taten ihr so weh. Ihre Glieder waren so schwer, daß sie sich nicht bewegen konnte. Und sie hatte so großen Hunger und so schrecklichen Durst. Und sie war so müde. Außerdem war er nur drei Schritte von ihr entfernt, und in weniger als einer Sekunde hatte er diese drei Schritte getan, und sie hatte seine Schuhe und die Enden seiner Hosenbeine vor sich.
Er kniete nieder, und sie schreckte zurück. Sie spürte etwas Hartes unter ihrem Kopf und wußte, daß sie versehentlich auf Widgie gerollt war. Armer Widgie, dachte sie. Ich bin ihm wirklich keine gute Freundin. Sie zog ihren Kopf weg.
»Das ist schon besser«, sagte er zu ihr. »Es ist viel besser, wenn du keinen Zirkus machst.«
Verschwommen sah sie, wie er die Thermosflasche aufschraubte, und sie sagte: »Meine Brille. Kann ich meine Brille haben?«
»Für das hier brauchst du keine Brille«, versetzte er. Dann schob er seine linke Hand unter ihren Nacken und hob ihren Kopf an.
»Dein Papa hätte die Geschichte bringen sollen«, sagte er. Seine Finger packten fester zu. Sie rissen an ihrem Haar. »Dein Papa hätte sich an die Regeln halten sollen.«
»Bitte!« Lottie spürte, wie alles in ihr zu zittern begann. Sie strampelte mit den Beinen und krallte die Finger in den Boden. »Das tut weh«, sagte sie. »Nicht ... meine Mama ...«
»Nein«, sagte er. »Es wird nicht weh tun. Überhaupt nicht. Du wirst schon sehen. Also, willst du was trinken?«
Er hielt sie immer noch fest gepackt, aber sie faßte wieder Mut. Er wollte ihr doch nicht weh tun.
Aber anstatt den Saft aus der Thermosflasche in den Becher zu gießen, anstatt den Becher an ihren Mund zu führen, umfaßte er ihren Nacken noch fester, riß ihren
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