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08 - Im Angesicht des Feindes

08 - Im Angesicht des Feindes

Titel: 08 - Im Angesicht des Feindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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vielleicht nicht«, entgegnete sie. »Ich schon.«
    Sie ging und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Er starrte auf das dunkle Holz und bezwang mit einer Kraftanstrengung den überwältigenden Impuls, es einzutreten. Er merkte, daß er irgendwann im Lauf ihres Gesprächs die Hände geballt hatte, weil er am liebsten zugeschlagen hätte. Und jetzt überkam es ihn wieder, dieses Bedürfnis, seine Faust durch eine Wand oder eine Fensterscheibe zu donnern, sowohl um Schmerz zu verursachen als auch, um ihn zu spüren.
    Er zwang sich, von der Tür wegzugehen. Er zwang sich, den Weg zur Haustür einzuschlagen. Draußen zwang er sich, tief durchzuatmen.
    Er konnte Barbara Havers' Urteil über dieses Gespräch mit seinen Freunden beinahe hören: Erstklassige Arbeit, Inspector. Ich hab' sogar mitgeschrieben. Anklagen, Beleidigungen, allgemeines Vor-den-Kopf-Stoßen. Eine brillante Art, sich ihrer Mitarbeit zu versichern.
    Aber was hätte er sonst tun sollen? Hätte er ihnen vielleicht zu ihrer stümperhaften Einmischung gratulieren sollen? Hätte er sie höflich vom Ableben des Kindes in Kenntnis setzen sollen? Hätte er dieses alberne, schönfärberische Wort - Ableben - gebrauchen sollen, um ihnen zu ersparen, daß sie sich so fühlten, wie sie sich zum Teufel noch mal in diesem Moment fühlen sollten: schuldig?
    Die drei haben ihr Bestes getan, hätte Havers eingewandt. Sie haben doch Simons Bericht gehört, Inspector. Sie sind jeder Spur nachgegangen. Sie haben den Tagesablauf des kleinen Mädchens am Mittwoch bis ins Detail verfolgt. Sie haben ihr Bild in Marylebone herumgezeigt. Sie haben mit den Menschen gesprochen, die die Kleine zuletzt gesehen haben. Was hätten Sie denn noch getan, Inspector?
    Personenüberprüfungen vorgenommen. Telefonleitungen angezapft. Ein Dutzend Beamte nach Marylebone geschickt. Das Foto des kleinen Mädchens an sämtliche Fernsehsender verteilt und die Öffentlichkeit um Mitarbeit gebeten. Ihren Namen und ihre Personenbeschreibung in den Polizeicomputer eingegeben. Und das wäre nur der Anfang gewesen.
    Und wenn die Eltern diesen Anfang nun nicht wollten? hätte Havers gefragt. Was dann, Inspector? Was hätten Sie getan, wenn sie Ihnen die Hände gebunden hätten, wie sie das bei Simon getan haben?
    Aber sie hätten Lynley die Hände nicht binden können. Man konnte nicht die Polizei anrufen, ein Verbrechen melden und darüber bestimmen, wie die Polizei ihre Ermittlungen führte. Das mußte zumindest St. James - wenn schon nicht Helen und Deborah - genau wissen. Es hatte in ihrer Macht gelegen, von Anfang an für eine ganz andere Art Untersuchung zu sorgen als die, die sie selbst geführt hatten. Und das wußten sie alle drei.
    Aber sie hatten ihr Wort gegeben ...
    Lynley konnte Barbara Havers' Einwände hören, aber sie wurden schwächer. Und ihr letztes Argument war am leichtesten zu entkräften. Ein Versprechen hatte kein Gewicht, wenn es gegen das Leben eines Kindes abgewogen wurde.
    Lynley stieg die Vortreppe zum Bürgersteig hinunter. Er spürte die befreiende Erleichterung, die dem Wissen entsprang, daß er im Recht war. Er ging zurück zu seinem Wagen und wollte ihn gerade aufsperren, als er jemanden seinen Namen rufen hörte.
    St. James kam ihm nach. Sein Gesicht war verschlossen, und als er den Wagen erreicht hatte, hielt er Lynley nur einen braunen Umschlag hin und sagte: »Die wirst du haben wollen, denke ich.«
    »Was ist das?«
    »Eine Fotografie von Charlotte. Die Entführerschreiben. Die Fingerabdrücke vom Kassettenrecorder. Die Fingerabdrücke, die ich Luxford und Stone abgenommen habe.«
    Lynley nickte. Er nahm die Unterlagen entgegen, und als er das tat, wurde ihm bewußt, daß er trotz seiner Überzeugung, mit seiner scharfen Kritik an seinen Freunden und der Frau, die er liebte, absolut im Recht zu sein, ein tiefes Unbehagen verspürte angesichts von St. James' bewußt höflicher Art und allem, was sie bedeutete. Dieses Unbehagen irritierte ihn; es erinnerte ihn daran, daß es in seinem Leben Verpflichtungen gab, die oft kompliziert waren und über die engen Grenzen seiner Arbeit hinausgingen.
    Er wandte sich ab und blickte die Straße hinauf zu der Stelle, wo sie einen Knick machte. Dort stand ein sehr altes Backsteinhaus, das dringend der Renovierung bedurfte. Es hätte ein Vermögen wert sein können, wenn jemand sich die Mühe gemacht hätte, sich um seine Wiederherstellung zu kümmern. So aber war es völlig unbewohnbar.
    Seufzend sagte er: »Ach, verdammt, Simon.

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