08 - Im Angesicht des Feindes
Obduktion wird uns genau sagen, was geschehen ist.«
»Ja. Natürlich. Das ist die amtliche Linie. Ich verstehe schon. Aber ich habe den Leichnam gesehen. Ich -« Sie drückte die Fingerspitzen so fest auf die Tischplatte, daß sie ganz weiß wurden. Es dauerte einen Moment, ehe sie zu sprechen fortfuhr, und in dieser Pause konnten sie alle deutlich, wenn auch gedämpft, die Stimmen der Reporter draußen auf der Straße hören. »Ich hab ihren ganzen Körper gesehen, nicht nur das Gesicht. Es war nichts an ihm zu sehen. Keine Verletzung. Nirgends. Jedenfalls nichts Wesentliches. Sie war nicht gefesselt worden. Man hatte den Körper nicht irgendwie beschwert. Sie hatte sich nicht gegen irgend jemand zur Wehr gesetzt, der sie unter Wasser drückte. Was schließen Sie daraus, Inspector? Ich schließe daraus, daß es ein Unfall war.«
Lynley widersprach ihr nicht. Er war mehr daran interessiert zu erfahren, worauf sie mit ihren Argumenten hinauswollte, als ihre falschen Vorstellungen von einem Unfalltod durch Ertrinken zu korrigieren.
»Ich glaube, irgend etwas an seinem Plan ist mißglückt«, fuhr sie fort. »Er wollte sie festhalten, bis ich seinen Forderungen nach einem öffentlichen Bekenntnis nachgegeben hätte. Danach hätte er sie heil und gesund freigelassen.«
»Mr. Luxford?«
»Er hätte sie nicht getötet oder töten lassen. Er brauchte sie lebend, um mich erpressen zu können. Aber irgend etwas ist wohl schiefgegangen. Und sie ist gestorben. Sie hatte wohl keine Ahnung, was los war. Vielleicht hatte sie Angst. Vielleicht ist sie geflohen. Das hätte Charlotte ähnlich gesehen - zu fliehen. Vielleicht ist sie einfach losgerannt. Es war dunkel. Sie war auf dem Land. Sie hat die Gegend nicht gekannt. Sie konnte nicht wissen, daß es da einen Kanal gab, weil sie noch nie in Wiltshire war.«
»Konnte sie schwimmen?«
»Ja. Aber wenn sie gerannt ist ... Wenn sie gerannt ist und stürzte, sich den Kopf angeschlagen hat ... Es ist doch klar, was passiert sein könnte.«
»Wir lassen nichts außer acht, Mrs. Bowen.«
»Also auch Dennis Luxford nicht?«
»So wenig wie alle anderen.«
Sie richtete ihren Blick wieder auf die Papiere und begann von neuem, glättend über sie hinwegzustreichen. »Es gibt niemand anderen.«
»Das können wir nicht sagen«, entgegnete Lynley, »solange wir die Tatsachen nicht gründlich untersucht haben.« Er zog einen der drei freien Stühle heraus, die um den Tisch standen, und setzte sich. Mit einem Nicken bedeutete er Nkata, das gleiche zu tun. »Ich sehe, Sie haben sich Arbeit mit nach Hause genommen«, bemerkte er dann.
»Ist das die erste Tatsache, die gründlich untersucht werden muß? Wie schafft es die Staatssekretärin, seelenruhig bei der Arbeit im Garten zu sitzen, während ihr Mann - der nicht einmal der Vater ihres Kindes ist - von Schmerz überwältigt oben im Bett liegt?«
»Ich nehme an, Sie tragen sehr große Verantwortung.«
»Nein. Sie nehmen an, daß ich eine herzlose Person bin. Das ist doch die logischste Schlußfolgerung für Sie, nicht wahr? Sie müssen mein Verhalten beobachten. Das gehört zu Ihrer Arbeit. Sie müssen sich fragen, was für eine Mutter ich bin. Sie suchen die Person, die meine Tochter entführt hat, und nach allem, was Sie wissen, könnte ich selbst die Person sein, die das Ganze arrangiert hat. Wie sonst könnte ich hier sitzen und Papiere durchsehen, als wäre nichts geschehen? Ich mache nicht den Eindruck, als würde ich am liebsten stumm vor mich hin starren oder mir vor Kummer die Haare ausraufen, oder?«
Lynley neigte sich zu ihr. Er legte seine Hand in die Nähe der ihren, auf einen der Papierstapel.
»Lassen Sie mich eins klarstellen, Mrs. Bowen«, sagte er.
»Nicht jede Bemerkung, die ich Ihnen gegenüber mache, ist gleich ein Urteil.«
Er hörte, wie sie schluckte. »In meiner Welt schon.«
»Und eben über Ihre Welt müssen wir sprechen.«
Ihre Finger auf den Papieren krümmten sich, als wollte sie die Dokumente zusammenknüllen. Es schien sie große Anstrengung zu kosten, sie wieder zu entspannen. »Ich habe nicht geweint«, sagte sie. »Sie war meine Tochter. Und ich habe nicht geweint. Er sieht mich an. Er wartet auf die Tränen, weil er mich trösten kann, wenn ich weine, und solange ich es nicht tue, ist er ganz verloren. Er hat nichts, worauf er sich konzentrieren kann. Er findet keinen Halt. Weil ich nicht weinen kann.«
»Sie stehen noch unter Schock.«
»Nein. Das ist das allerschlimmste. Nicht unter
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