08 - Im Angesicht des Feindes
einem älteren Mann unterhalten«, berichtete er weiter. »Er wohnt in Nummer einundzwanzig im ersten Stock und ist bettlägrig. Hat ein hohes Krankenhausbett da oben stehen und vertreibt sich die Zeit damit, auf die Straße rauszuschauen. Er sagt, letzte Woche sei nichts Ungewöhnliches vorgefallen, soweit er wisse. Nur die üblichen Leute auf der Straße. Briefträger, Milchmann, Anwohner und dergleichen. Und bei der Bowen, sagt er, läuft alles so regelmäßig ab, daß man die Uhr danach stellen könnte. Es wäre ihm bestimmt aufgefallen, wenn da was los gewesen wäre, meint er.«
»Haben Sie was von Stadtstreichern oder Pennern in der Gegend gehört?« Lynley berichtete Nkata, was er von St. James erfahren hatte.
Nkata schüttelte den Kopf. »Keinen Ton. Und dieser Alte, von dem ich eben erzählt hab', der hätte sich bestimmt erinnert. Der weiß über alles Bescheid, was hier in der Nachbarschaft abläuft. Er hat mir sogar erzählt, welche Dame sich gern mal einen flotten jungen Typen ins Haus holt, wenn der Ehemann unterwegs ist. Das kommt mindestens drei-, viermal die Woche vor, hat er mir versichert.«
»Das haben Sie sich wohl genau aufgeschrieben, wie?«
Nkata lachte und hob abwehrend die Hand. »Ich führe dieser Tage ein absolut sauberes Leben. Schon seit sechs Monaten. An meiner Mutter Lieblingssohn bleibt nichts hängen, wenn er das nicht will. Sie können's mir glauben.«
»Freut mich, das zu hören.« Lynley wies mit dem Kopf zu Eve Bowens Haus. »War da was los?«
»Der Innenminister war ungefähr eine Stunde da. Danach so ein langer, magerer Bursche mit seriösem Haarschnitt. Der war eine Viertelstunde da, vielleicht ein bißchen länger. Er hatte einen Stoß Bücher und Akten mit und ist dann mit einer älteren Frau, so einer Dicken mit Einkaufstasche, wieder gegangen. Hat sie in den Wagen bugsiert und ist abgedampft. Die Haushälterin, würde ich ihrem Aussehen nach mal sagen. Sie hat sich den Arm vors Gesicht gehalten. Entweder weil sie geweint hat, oder weil sie sich nicht fotografieren lassen wollte.«
»Und das ist alles?«
»Das ist alles, ja. Außer es ist jemand hinten im Garten mit dem Fallschirm gelandet. Was ich dieser Bande, ehrlich gesagt, jederzeit zutrauen würde. Wie sind die überhaupt so schnell hierhergekommen?« Nkata deutete auf die Reporter.
»Mit Hilfe Merkurs oder von der Enterprise heruntergebeamt. Suchen Sie sich's aus.«
»So ein Glück sollte ich mal haben! Ich hab' stundenlang im Stau vor dem Buckingham-Kasten gesteckt. Warum versetzen sie das verdammte Ding nicht in einen anderen Teil der Stadt? Thront mitten in einem Kreisverkehr und behindert alles.«
»Einige Abgeordnete würden das bestimmt für eine sehr passende Metapher halten, Winston«, meinte Lynley. »Aber Mrs. Bowen vermutlich nicht. Kommen Sie, sprechen wir mal mit ihr.«
Der Constable an der Tür sah sich Lynleys Ausweis an, ehe er sie einließ. Drinnen saß eine Beamtin in einem Korbsessel am Fuß der Treppe. Sie zerbrach sich gerade über dem Kreuzworträtsel der Times den Kopf und sprang mit einem Synonymlexikon in der Hand auf, als Lynley und Nkata hereinkamen. Sie führte sie in das Wohnzimmer, an das sich mit offenem Durchgang ein Speisezimmer anschloß. Auf dem Tisch stand eine Mahlzeit bereit: Lammkoteletts in langsam gerinnendem Bratensaft, Minzgelee, Erbsen und Kartoffeln. Es war für zwei gedeckt. Eine geöffnete Flasche Wein stand zwischen den Gedecken. Aber es war nichts angerührt.
Auf der anderen Seite des Eßtischs führte eine Fenstertür in den Garten. Er war nach Art eines Innenhofs angelegt, mit Terrakottafliesen auf dem Boden, die von breiten, gepflegten Blumenbeeten umrahmt waren. In der Mitte plätscherte ein kleiner Springbrunnen. An einem grünen schmiedeeisernen Tisch links von der Terrassentür saß Eve Bowen in den dichter werdenden Schatten, vor sich ein aufgeschlagenes Ringbuch, daneben ein Glas, das zur Hälfte mit Rotwein gefüllt war. Auf einem Stuhl neben ihr stapelten sich fünf weitere Ringbücher.
Die Beamtin sagte: »Mrs. Bowen? New Scotland Yard.« Damit war die Bekanntmachung für sie erledigt. Als Eve Bowen aufblickte, trat sie zurück und ging wieder ins Haus.
»Ich habe mit Mr. St. James gesprochen«, erklärte Lynley, nachdem er sich und Detective Constable Nkata vorgestellt hatte. »Wir müssen in aller Offenheit mit Ihnen sprechen. Es wird vielleicht schmerzhaft werden, aber anders geht es nicht.«
»Er hat Ihnen also alles erzählt.« Eve
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