08 - Im Angesicht des Feindes
Schock zu stehen, wenn alle es erwarten. Ärzte, Verwandte, Kollegen. Alle warten sie darauf, daß ich endlich ein akzeptables und angemessenes Zeichen mütterlichen Schmerzes erkennen lasse, damit sie wissen, was sie als nächstes tun sollen.«
Lynley wußte, daß es wenig Sinn hatte, der Frau von den zahllosen unterschiedlichen Reaktionen auf einen plötzlichen Tod zu erzählen, die er im Lauf der Jahre miterlebt hatte. Gewiß, ihre Reaktion auf den Tod ihrer Tochter entsprach nicht dem, was er von einer Mutter, deren zehnjähriges Kind entführt, festgehalten und dann tot aufgefunden worden war, erwartet hätte, aber er wußte, daß ihr Mangel an äußerer Bewegung ihre Reaktion nicht weniger echt machte. Und er wußte auch, daß Nkata dies alles vermerkte; er hatte zu schreiben angefangen, sobald Eve Bowen zu sprechen begonnen hatte.
»Wir werden Mr. Luxford überprüfen«, sagte er zu ihr.
»Aber wir werden uns nicht auf ihn allein beschränken. Wenn die Entführung Ihrer Tochter der erste Schritt war, um Ihnen Ihre politische Macht zu nehmen -«
»- dann müssen wir überlegen, wer außer Dennis daran ein Interesse haben könnte«, vollendete sie für ihn. »Habe ich das richtig verstanden?«
»Ja. Das müssen wir bedenken. Und ebenso die Gefühle, die jemanden dazu treiben könnten, Ihren Sturz zu wünschen:
Eifersucht, Neid, Machtgier, politischer Ehrgeiz, Rache. Haben Sie sich jemanden von der Opposition zum Feind gemacht?«
Ihre Lippen verzogen sich zu einem flüchtigen, ironischen Lächeln. »Die Feinde sitzen einem im Parlament nicht gegenüber, Inspector. Sie sitzen hinter einem, mit dem Rest der eigenen Partei.«
»Um besser zustechen zu können«, warf Nkata ein.
»Richtig.«
»Sie sind relativ schnell zu Macht gekommen, nicht wahr?« fragte Lynley.
»In sechs Jahren.«
»Seit Ihrer ersten Wahl?« Als sie nickte, sagte er: »Das ist eine kurze Lehrzeit. Andere sitzen jahrelang auf den Hinterbänken, nicht wahr? Und unter ihnen vielleicht solche, die versucht haben, sich vor Ihnen einen Posten in der Regierung zu erobern.«
»Ich bin nicht die erste jüngere Abgeordnete, die an dienstälteren Kollegen vorbeigezogen ist. Es ist nicht nur eine Frage des Ehrgeizes, sondern auch der Begabung.«
»Akzeptiert«, meinte Lynley. »Aber es könnte ja sein, daß jemand, der genauso ehrgeizig ist und sich ebenso begabt findet wie Sie, es sehr krummgenommen hat, als Sie an ihm vorbeigezogen sind und diesen Posten in der Regierung bekommen haben. Und aus der Wut könnte sich der Wunsch entwickelt haben, Sie zu Fall zu bringen. Mit Hilfe von Enthüllungen über Charlottes leiblichen Vater. Wenn das zutreffen sollte, müssen wir nach einer Person suchen, die zu der Zeit, als Ihre Tochter gezeugt wurde, ebenfalls in Blackpool beim Parteitag war.«
Eve Bowen neigte ihren Kopf leicht zur Seite und betrachtete ihn aufmerksam. Etwas überrascht sagte sie: »Er hat Ihnen wirklich alles erzählt, nicht? Mr. St. James, meine ich.«
»Ich sagte ja, daß ich mit ihm gesprochen habe.«
»Aus irgendeinem Grund dachte ich, er hätte Ihnen die weniger erquicklichen Einzelheiten erspart.«
»Ohne zu wissen, daß Sie und Mr. Luxford in Blackpool eine Liebesbeziehung hatten, hätte ich nicht hoffen können, mit meinen Ermittlungen vorwärtszukommen.«
Sie hob einen Finger. »Keine Liebesbeziehung, Inspector. Das war eine rein sexuelle Angelegenheit.«
»Na schön, nennen Sie es, wie Sie wollen. Fest steht, daß jemand weiß, was zwischen Ihnen vorgefallen ist. Er hat nachgerechnet -«
»Oder sie«, warf Nkata ein.
»Oder sie«, stimmte Lynley zu, »und weiß, daß Charlotte aus dieser Beziehung hervorgegangen ist. Wer auch immer diese Person sein mag, es ist jemand, der damals in Blackpool war, der Ihnen etwas übelnimmt und der sehr wahrscheinlich Ihren Platz einnehmen möchte.«
Sie schien sich in sich selbst zurückzuziehen, während sie seine Beschreibung des möglichen Entführers überdachte.
»Da kommt mir als erstes Joel in den Sinn«, sagte sie. »Er würde bestimmt liebend gern meinen Platz einnehmen. Er erledigt sowieso schon einen großen Teil meiner Geschäfte. Aber ich halte es für unwahrscheinlich, daß er -«
»Joel?« fragte Nkata mit gezücktem Bleistift. »Sein Nachname, Mrs. Bowen?«
»Wood ward. Aber er ist zu jung. Er ist erst neunundzwanzig. Er war sicher nicht auf dem Parteitag in Blackpool. Es sei denn, sein Vater war dort. Vielleicht hat er ihn mitgenommen.«
»Wer ist der
Weitere Kostenlose Bücher