08 - Im Angesicht des Feindes
allein: der Tatort, die Bewertung des Beweismaterials, der Obduktionsbefund, die Fahndung nach dem Versteck, in dem das Kind festgehalten worden war, das Durchkämmen der gesamten Umgebung nach möglichen Indizien. Und nach Hinweisen auf die Identität des Täters. Sie war fest entschlossen, den Täter noch vor Lynley zu entlarven. Sie war in der besseren Position dazu, und wenn sie es schaffte, würde das der große Coup ihrer Karriere sein. Da steht eine Beförderung an, hätte Nkata gesagt. Nur recht und billig, dachte sie. Sie war längst überfällig.
Kurz vor Reading konnte sie endlich vom M4 abfahren, direkt auf die A4, die in gerader Linie nach Marlborough führte. Südlich davon lag Wootton Cross, wo sie sich auf der Polizeidienststelle mit den für den Fall zuständigen Kollegen von der Kriminalpolizei Amesford treffen sollte. Sie war mittlerweile natürlich viel zu spät dran, und als sie endlich auf dem kleinen Parkplatz hinter dem Backsteinkasten anhielt, in dem die Polizeidienststelle Wootton Cross ihren Sitz hatte, fragte sie sich, ob man sie bereits aufgegeben hatte. Das Gebäude war dunkel und schien leer zu sein - nach Sonnenuntergang nichts Ungewöhnliches in so einem kleinen Dorf. Der einzige Wagen, der dort stand, war ein betagter Escort, der etwa im selben heruntergekommenen Zustand wie ihr Mini war.
Sie stellte ihren Wagen neben dem Escort ab und drückte mit einem kräftigen Stoß ihrer Schulter die Tür auf. Sie nahm sich einen Moment Zeit, um ihre steifen Glieder zu strecken, und dachte, daß es doch seine Vorteile hatte, mit Lynley zusammenzuarbeiten. Seine Luxuskarosse war jedenfalls nicht zu verachten. Als die schlimmsten Knoten in ihren Muskeln sich gelöst hatten, ging sie zu dem dunklen Gebäude und spähte mit zusammengekniffenen Augen durch das staubige Glas der abgeschlossenen Hintertür.
Sie konnte einen Korridor erkennen, der in den vorderen Teil des Hauses führte. Zu beiden Seiten waren offene Türen, aus denen jedoch kein Lichtstrahl fiel.
Aber sie hätten mir doch bestimmt eine Nachricht hinterlassen, sagte sich Barbara und sah sich rund um den rechteckigen Betonklotz um, der als Vortreppe diente, um sich zu vergewissern, daß der Zettel nicht vielleicht weggeblasen worden war. Nachdem sie nichts weiter entdeckt hatte als eine zerdrückte Coladose und drei gebrauchte Kondome - safer sex gut und schön, aber sie konnte einfach nicht verstehen, warum die Leute niemals den Sprung von der Schwangerschaftsverhütung zum Umweltschutz schafften -, ging sie um das Gebäude herum nach vorn. Es stand an einer Kreuzung dreier Straßen, die nach Wootton Cross hineinführten und auf dem Dorfplatz zusammentrafen. Dort erhob sich das Standbild irgendeines obskuren Königs, der höchst verdrossen darüber zu sein schien, daß man ihm ausgerechnet in diesem noch obskureren Nest mitten auf dem Land ein Denkmal gesetzt hatte. Mit düsterer Miene blickte er auf die Polizeidienststelle, in der einen Hand sein Schwert, in der anderen den Schild, Krone und Schultern üppig mit Taubendreck gesprenkelt. Hinter ihm, auf der anderen Straßenseite, war das King Alfred Arms Pub, das es denjenigen, die zwei und zwei zusammenzählen konnten, ermöglichte, dem Standbild einen Namen zu geben. Nach der donnernden Musik, die aus den Fenstern dröhnte, und dem wilden Gewoge von Körpern hinter den Scheiben zu urteilen, florierte das Geschäft. Barbara nahm sich vor, dort als nächstes nach den Kollegen zu suchen, falls sich an der Vorderseite der Polizeidienststelle nichts ergeben würde.
Was beinahe der Fall war. Ein in sauberer Druckschrift geschriebenes Schild an der Tür riet denen, die nach Dienstschluß polizeiliche Hilfe suchten, sich telefonisch an die Dienststelle in Amesford zu wenden. Barbara klopfte trotzdem einmal mehr oder weniger zaghaft an die Tür, nur für den Fall, daß das Team, das sie angeblich erwartete, in einen Dornröschenschlaf gefallen sein sollte. Als sich drinnen nichts rührte, kein Licht anging, wußte sie, daß ihr nichts anderes übrigbleiben würde, als den angeheiterten Gästen und der Musik - die sich ganz entfernt nach In the Mood anhörte, das enthusiastisch, wenn auch nicht ganz richtig von einer Band alter Herren mit eingeschränkter Lungenkapazität gespielt wurde - zu trotzen und sich ins King Alfred Arms zu wagen.
Sie haßte es, allein in ein Pub zu gehen. Sie haßte den Moment, wenn alle die Köpfe drehten, um den neuen Gast kritisch zu mustern. Aber an
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