08 - Im Angesicht des Feindes
Möglichkeit in Erwägung ziehen, ist ihr und Leo vielleicht etwas passiert ... vielleicht liegen sie irgendwo auf der Straße ... Herrgott noch mal!« Luxford schlug mit der Faust auf das Treppengeländer.
»Wohnen Ihre Eltern in der Nähe? Oder die Ihrer Frau?«
»Nein. Niemand. Nichts.«
»Könnte es sein, daß sie mit Ihrem Sohn zu Freunden gegangen ist? Zu Kollegen? Wenn sie die Wahrheit über Sie und Eve Bowen entdeckt hat, kann es doch sein, daß sie mit Ihrem Sohn -«
»Sie hat die Wahrheit nicht entdeckt. Sie kann die Wahrheit nicht entdeckt haben. Sie müßte entweder hier im Haus oder draußen im Garten sein oder vielleicht mit dem Fahrrad unterwegs. Und Leo müßte bei ihr sein.«
»Hat sie ein Tagebuch, in dem wir -«
Sie fuhren beide herum, als draußen jemand gegen die Haustür stieß. Im selben Moment flog die Tür auf und prallte krachend gegen die Wand. Eine Frau stürzte herein, groß, mit langem honigblondem Haar, das ihr wirr ins Gesicht fiel. Ihre weinrote Leggings war schmutzig. Sie atmete keuchend und hielt beide Hände auf ihre Brust gedrückt, als hätte sie einen Herzanfall.
»Fiona!« schrie Luxford auf und rannte die letzten Treppenstufen hinunter. »Was um Gottes willen -?«
Mit einem Ruck hob sie den Kopf. Lynley sah, daß ihr Gesicht aschfahl war. Sie rief den Namen ihres Mannes, und Luxford riß sie in seine Arme.
»Leo«, stieß sie hervor. Ihre Stimme klang, als wäre sie völlig außer sich. »Dennis, Leo ist verschwunden. Leo - ich kann ihn nirgends finden.«
Sie hob die geballten Fäuste vor sein Gesicht und öffnete sie. Eine Schulmütze, die offensichtlich einem kleinen Jungen gehörte, fiel zu Boden.
Sie konnte ihre Geschichte nur in Bruchstücken erzählen, weil sie immer wieder absetzen mußte, um Atem zu holen. Sie hatte Leo spätestens um vier erwartet. Als er um fünf immer noch nicht da war, war sie so verärgert über seine Gedankenlosigkeit, daß sie beschloß, ihn zu suchen und ihm gründlich die Leviten zu lesen, wenn sie ihn fand. Er wußte schließlich ganz genau, daß er nach der Schule auf dem kürzesten Weg nach Hause kommen sollte. Aber als sie mit dem Wagen losfahren wollte, hatte sie gemerkt, daß ein Reifen platt war, und sich zu Fuß aufgemacht.
»Ich bin jeden Weg abgelaufen, den er gegangen sein könnte«, sagte sie und zählte ihrem Mann die verschiedenen Routen auf, als müßte sie etwas beweisen. Sie hockte auf der vordersten Kante eines Sofas im Wohnzimmer. Ihre Hände, die das Whiskyglas umfaßt hielten, das Luxford ihr gereicht hatte, zitterten heftig. Luxford kauerte vor ihr und hielt sie bei den Armen, wie um sie zu beruhigen. Ab und zu hob er eine Hand, um ihr das Haar aus dem Gesicht zu streichen. »Und nachdem ich alle Wege abgesucht hatte, bin ich am Friedhof entlang nach Hause gerannt. Und da hab' ich die Mütze ... Leos Mütze ...« Sie führte das Glas mit dem Whisky zum Mund. Sie zitterte so stark, daß es klappernd an ihre Zähne schlug.
Luxford schien zu wissen, was sie nicht aussprechen wollte.
»Auf dem Friedhof?« fragte er. »Du hast Leos Mütze auf dem Friedhof gefunden?«
Sie begann zu weinen.
»Aber Leo weiß doch, daß er nicht allein auf den Highgate-Friedhof gehen soll.« Luxford klang verwirrt. »Ich habe es ihm doch extra gesagt, Fiona. Ich habe es ihm immer wieder gesagt.«
»Ja, natürlich weiß er es, aber er ist eben ein Junge. Ein kleiner Junge. Er ist neugierig. Und der Friedhof ... du weißt doch, wie verlockend er ist. Völlig verwildert. So abenteuerlich. Leo kommt jeden Tag daran vorbei. Er wird sich gedacht haben -«
»Mein Gott, hat er dir erzählt, daß er dorthin will?«
»Aber Dennis, was soll er groß gesagt haben? Er ist mit dem Friedhof aufgewachsen. Er sieht ihn jeden Tag. Die Gräber und Katakomben haben ihn schon immer fasziniert. Er hat über die Standbilder nachgelesen und -«
Luxford stand auf. Er schob beide Hände in die Hosentaschen und wandte sich von ihr ab.
»Was ist?« fragte sie, und ihre Stimme war schrill vor Angst.
»Was ist, Dennis?«
Er drehte sich zu ihr um. »Hast du ihn dazu ermutigt?«
»Wozu?«
»Die Gräber zu besichtigen. Und die Katakomben. In diesem verdammten Friedhof auf Abenteuer zu gehen. Hast du ihn dazu ermutigt, Fiona? Ist er darum dorthin gegangen?«
»Nein! Ich habe seine Fragen beantwortet, sonst nichts.«
»Und das hat ihn neugierig gemacht. Das hat seine Phantasie angeregt.«
»Was hätte ich denn tun sollen, wenn er mich fragt?«
»Und das
Weitere Kostenlose Bücher