08 - Im Angesicht des Feindes
haben, wenn auch nicht so, wie sie es gemeint hat.« Er berichtete St. James, was er von Harvie über Eve Bowen, die IRA und ihre Splittergruppen gehört hatte.
»An sich hat die IRA ja nie so gearbeitet«, schloß er. »Noch nie haben diese Leute ein Kind entführt und dann getötet. Ich würde den Gedanken gern kurzerhand verwerfen. Aber das kann ich nicht. Wir müssen auch dieser Möglichkeit nachgehen, um festzustellen, ob da was dran ist.«
»Die Haushälterin ist Irin«, sagte St. James. »Damien Chambers ebenfalls. Der Musiklehrer.«
»Der letzte, der Charlotte gesehen hat«, bemerkte Lynley.
»Er hat einen Belfaster Akzent, wenn das was aussagt. Meiner Ansicht nach kommt er eher in Frage als die Haushälterin.«
»Warum?«
»An dem Abend, an dem Helen und ich bei ihm waren, hatte er jemanden bei sich im Haus. Im oberen Stockwerk. Er behauptete, es wäre eine Frau, und schob seine auffallende Nervosität auf seine Angst, daß gleich die erste gemeinsame Nacht schiefgehen könnte. Da ist alles zur Verführungsszene vorbereitet, und plötzlich platzen zwei fremde Leute herein, um ihn über das Verschwinden einer seiner Schülerinnen auszufragen.«
»Eine verständliche Reaktion.«
»Sicher. Aber es gibt da noch eine andere Verbindung zwischen Chambers und der Entführung von Charlotte Bowen. Es fällt mir eigentlich erst jetzt auf, wo du die IRA erwähnst.«
»Was für eine Verbindung?«
»Der Name. In dem Brief, den Eve Bowen erhielt, wird Charlotte als Lottie bezeichnet. Aber von allen Leuten, mit denen ich über das Kind gesprochen habe, nannten nur Damien Chambers und ihre Schulfreundinnen sie Lottie. Ich an deiner Stelle würde Chambers auf jeden Fall mal auf den Zahn fühlen.«
»Noch eine Möglichkeit«, sagte Lynley resigniert.
Er verabschiedete sich und ging zu seinem Wagen. St. James wartete, bis er weggefahren war, ehe er sich umdrehte und ins Haus zurückging.
Er fand Deborah noch immer oben in der Dunkelkammer. Doch die Musik war jetzt ausgeschaltet. Sie war mit dem Entwickeln ihrer Bilder fertig, und die Tür zur Dunkelkammer war offen; dennoch hatte sie, wie er sah, ihre Arbeit noch nicht beendet. Sie stand über den Arbeitstisch gebeugt und betrachtete etwas mit dem Vergrößerungsglas. Einen ihrer alten Probeabzüge, vermutete er. Es war ihre Gewohnheit, ihre eigene kreative Entwicklung ständig zu überprüfen, indem sie den früheren Stand ihrer Arbeit immer wieder mit dem gegenwärtigen verglich.
Sie war so vertieft in die Betrachtung des Bildes, daß sie ihn nicht hörte, als er ihren Namen sprach. Er trat in die Dunkelkammer und sah ihr über die Schulter. Als er erkannte, was sie so fesselte, war ihm sofort klar, daß er von der Entführung des zweiten Kindes nichts sagen durfte. Sie prüfte nicht etwa einen ihrer Probeabzüge. Vielmehr studierte sie durch das Vergrößerungsglas das Foto der toten Charlotte Bowen, das Lynley ihr am vergangenen Nachmittag im Zorn hingeworfen hatte.
Er wollte nach dem Vergrößerungsglas greifen. Sie fuhr mit einem Aufschrei zusammen und ließ das Glas auf das Foto fallen.
»Du hast mich erschreckt!«
»Tommy war hier.«
Sie senkte die Lider und spielte nervös mit dem Rand des Fotos.
»Er hat sich für das, was er zu dir gesagt hat, entschuldigt, Deborah. Es geschah in der momentanen Erregung. Er hat es nicht ernst gemeint. Er wäre heraufgekommen, um selbst mit dir zu sprechen, aber ich hielt es für besser, es dir auszurichten. Wäre es dir lieber gewesen, ihn zu sehen?«
»Was Tommy gemeint hat, ist bedeutungslos. Er hat die Wahrheit gesagt. Ich töte Kinder, Simon. Wir beide wissen es. Was Tommy nicht weiß, ist, daß Charlotte Bowen nicht das erste war.«
St. James fühlte sich niedergedrückt wie von einem Bleigewicht. Nicht jetzt, schrie es in ihm. Nicht schon wieder. Am liebsten wäre er einfach aus dem Zimmer gelaufen und hätte gewartet, bis Deborah aus ihrer Depression herausgefunden hatte. Aber er liebte sie, und deshalb blieb er und zwang sich zu Geduld und Vernunft. »Das ist so lange her. Wie viele Jahre willst du brauchen, um dir zu verzeihen?«
»Ich kann mich nicht an einen Termin halten, den du mir setzt«, entgegnete sie. »Gefühle sind keine wissenschaftlichen Formeln. Man kann nicht einfach Reue und Verständnis addieren, um als Ergebnis inneren Frieden zu erhalten. Ich jedenfalls kann es nicht. Das, was in einem Menschen vorgeht - oder zumindest in mir vorgeht -, ist kein berechenbarer chemischer Prozeß,
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