080 - Befehle aus dem Jenseits
darf nicht überleben, Hunter. Er will den Tod dieser Menschen."
„Weiß ich", stieß ich hervor.
Der Schamane lachte noch einmal grotesk, dann löste er sich vor unseren Augen auf. Es war, als würde ein Strohfeuer abbrennen. Seine Gestalt verschwand einfach von der Bildfläche. Schließlich waren nur noch die beiden glühenden Augen übrig. Sie funkelten uns tückisch an.
„Jagt sie!" feuerte der Schamane die Bewohner an. „Jagt sie und stoßt sie in die Schlucht! Ich muß euch jetzt verlassen. Um Mitternacht kehre ich zurück, um die große Schuld zu tilgen."
Mit einem tierischen Aufschrei kommentierten die Männer und Frauen das Verschwinden des Schamanen. Seine Haßimpulse waren noch vorhanden, doch seine äußere Erscheinung war in der Finsternis verschwunden. Ich ahnte, wo er jetzt steckte.
„Dort oben, Kiwibin! In der Bojarenruine werden wir ihn aufstöbern."
„Gute Idee, Hunter. Aber wir werden nicht lebend dort hochkommen. Die Meute zerreißt uns bei lebendigem Leibe."
Der dämonische Einfluß peitschte die Menschen zu Taten an, derer sie sich bei klarem Bewußtsein geschämt hätten. Sie verwandelten sich in reißende Bestien. Die Haßimpulse des Schamanen würden sie so lange quälen, bis wir tot zu ihren Füßen lagen.
„Wir brechen durch", stieß ich zischend hervor.
Wir rannten genau auf die Menschenmauer zu. Sie wollten uns in die Schlucht abdrängen, also nützte uns nur der Frontalangriff. Ich schlug wild drauf los. Kiwibin streckte einen Mann mit dem Kolben seiner Pistole nieder. Einem anderen stellte er geschickt ein Bein. Anschließend packte er zwei junge Burschen am Kragen und rammte ihre Köpfe zusammen.
Für einen kurzen Augenblick entstand eine Lücke vor uns. Von links und rechts stürmten andere heran, um uns an der Flucht zu hindern.
Wir sprangen an den Männern vorbei und pirschten haarscharf am Rande des Abgrunds entlang.
Das Schreien, Wimmern und Kreischen der Verhexten folgte uns wie ein Wirbelsturm.
„Wenn wir die Felsenhalde überwunden haben", rief ich Kiwibin keuchend zu, „rennen wir durchs Unterholz. Dort gibt's genügend Deckung."
Die Bäume des Hochwaldes ragten schwarz und unheimlich vor uns auf. Das Gelände stieg jetzt ziemlich steil an. Der Boden war vereist, und wir rutschten mehrmals aus.
Die Stimmen unserer Verfolger geisterten durch den Wald. Anscheinend verliefen sich die Männer in der Dunkelheit. Sie waren überall und nirgends. Bei Tag wären wir nicht so leicht entwischt. „Nicht schlappmachen, Kiwibin!" preßte ich schweratmend hervor. „Wir haben noch eine ganz anständige Strecke vor uns. Halten Sie mir die Daumen, daß wir's bis Mitternacht schaffen! Sonst sehe ich schwarz für die Bürger von Saboroschje "
Ein Blick auf meine Uhr zeigte mir, daß es halb zwölf war.
Je höher wir hinaufstiegen, desto schärfer blies der Wind. Die Bäume standen nicht mehr so dicht. Kleine Dornenbüsche und Zwergkiefern beherrschten das Bild. Wo früher einmal ein Weg für die Pferde und Karren gewesen war, wucherte jetzt Gestrüpp. Mächtige Felsbrocken lagen überall verstreut umher.
Plötzlich riß die Wolkendecke auseinander. Schlagartig überflutete fahles Mondlicht den Berggipfel. Die düsteren Nebelschwaden blieben hinter uns zurück.
„Dort! Die Ruine!"
Ich folgte Kiwibins ausgestreckter Hand. Nicht einmal fünfzig Meter von uns entfernt ragten düstere Ruinen in den Nachthimmel. Eine ehemals starke Mauer war jetzt durchlöchert und brüchig wie das Gebiß eines alten Mannes. Der Wind heulte schaurig durch die Ritzen.
„Die Meute ist immer noch hinter uns her."
Mehrere Männer traten in diesem Augenblick aus dem Wald heraus. Einer entzündete eine Fackel aus Reisig und Stoffetzen.
Wir liefen weiter. Im Schutz der Ruine gab es sicher versteckte Kellerräume, in denen wir vor unseren Verfolgern sicher waren.
Je näher wir an die Bojarenruine herankamen, desto stärker wurden die Haßimpulse des Schamanen. „Er weiß genau, daß wir ihm hier oben ans Leder können", sagte Kiwibin. „Deshalb wird er jetzt seine ganze Kraft auf uns konzentrieren."
Ich löste das Silberkettchen von meinem Hals. Die gnostische Gemme lag in meiner Hand. Im Mondlicht schimmerte der Halbedelstein geheimnisvoll. Die eingekerbte Schlange schien zu leben. Das war natürlich nur eine optische Täuschung, doch ich konnte mich auf die Wirkung des Dämonenbanners verlassen.
Unmittelbar hinter der zerfallenden Mauer ragte der traurige Stumpf eines Wachturms auf.
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