080 - Befehle aus dem Jenseits
meiner Angst erlösen!"
Die Menschen bildeten eine Gasse. Sie verstummten, als die massige Gestalt aus der Finsternis zu ihnen herunterkam.
Der Kerl sah genauso aus wie der Mann, der in der vergangenen Nacht zu der toten Frau in die Schlucht herabgestiegen war. Er trug dieselbe ärmellose Weste. In der Rechten hielt er den mehrarmigen Kerzenleuchter, seine Linke baumelte herab. Seine großen Augen leuchteten phosphoreszierend. Sie schienen von innen heraus zu glühen. Die Fingernägel seiner Hände waren lang und gebogen wie bei einem Raubtier.
„Hilf uns, Schamane!" riefen die Bewohner von Saboroschje. „Erlöse uns endlich von der ewigen Angst, lebendig begraben zu werden!"
Der Schamane trat vor die Schar der Menschen hin. Er hob seinen Kerzenleuchter hoch, so daß ihn alle sehen konnten. Zu meinem Erstaunen bewegte der eiskalte Wind die Flammen überhaupt nicht. Sie waren unbewegt wie bei einem Elmsfeuer. Das widersprach allen Naturgesetzen.
Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war elf.
„Brüder!" ertönte die Stimme des Unheimlichen.
Er schob die Unterlippe vor, so daß man seine gelben verfaulten Zähne sehen konnte. Aber sprach er wirklich? Bewegte er die Lippen nicht nur aus Gewohnheit?
„Brüder, ihr seid gekommen, damit ich euch von euren Ängsten erlöse. Ihr vertraut euch meiner magischen Kraft an. Das ist gut so. Ihr könnt mir vertrauen, denn ich bin ein Meister des Übersinnlichen. Mir gehorchen die Tiere und auch die Menschen. Ich weiß, daß euch die Angst aus den Häusern getrieben hat. Ich weiß alles über euch. Denn ich kenne euch besser, als ihr euch selbst zu kennen glaubt."
Die unheimliche Stimme riß mich in ihren Bann. Die Worte standen so plastisch vor meinem geistigen Auge, daß ich sie überhaupt nicht überhören konnte. Ich wußte sofort, daß sich der Schamane der hypno-suggestiven Kommunikation bediente.
„Ich habe euch hierher gerufen, weil sich in dieser Nacht das Schicksal der ganzen Stadt entscheiden wird. Ich mußte lange auf diesen Augenblick warten, doch jetzt ist es endlich soweit. Um Mitternacht werdet ihr von allen Schmerzen, Ängsten und Sorgen befreit. Das verspreche ich euch." Unheimliches Gelächter raste durch mein Bewußtsein. Den anderen ging es nicht besser.
Ich merkte, daß Kiwibin unruhig wurde. Mir war noch immer nicht klar, ob er auch unter dem Zwang stand, der die anderen hergetrieben hatte. Ich sah, daß er ungeduldig an den Knöpfen seines schwarzen Gummimantels nestelte.
„Brüder!" begann der Schamane von neuem. Seine leicht gebeugte Gestalt reckte sich hoch empor. Er überragte die meisten um einen Kopf. „Ich weiß, daß zwei Feinde unter uns weilen."
Die Menge wurde unruhig. Ich sah mich erschrocken um. Der Schamane war mit allen Wassern gewaschen. Er wollte die Leute gegen mich und Kiwibin aufhetzen.
„Wo sind die Kerle?" schrie ein Mann und reckte drohend die Fäuste empor.
„Ja, sag uns, wo die Verräter stecken! Wir machen kurzen Prozeß mit ihnen."
„Sie werden sich selbst verraten", sagte der Schamane. „Sie können unserem Kreis nicht entrinnen, denn sie sind mitten unter uns!"
Kiwibin stand nur wenige Meter vom Schamanen entfernt. Er starrte den Unheimlichen erregt an. Ich fürchtete, ihn würde man zuerst entdecken und in die Schlucht stürzen.
„Bevor wir ein Strafgericht abhalten, will ich euch mehr über mich erzählen, meine Brüder und Schwestern. Es ist schon lange her, daß ich das Licht der Welt erblickte. Die Zeit war dunkel und grausam. Die Menschen litten unter der Knute des Zaren. Niemand wagte auch nur ein Wort zu sagen. Lieber ließen sie sich auspeitschen, foltern oder sogar hinrichten. Ich war ein Schamane, ein Wissender unter der Schar von Unwissenden. Ich erbte die Fähigkeit der Magie von meiner Mutter. Mein Vater war ein Tiermeister. Er lehrte mich die Sprache der niedrigen Kreatur verstehen. Niemand konnte es mit mir aufnehmen. Ich war ein Geistesriese in einer finsteren Zeit. Die Zeit, in der ich geboren wurde, war für mein Erscheinen noch nicht reif. Man verfolgte mich. Ja, es waren Bürger dieser Stadt, die mich fesselten und in die Gruft der Bojarenfestung verbannten. Diese Narren hatten Angst vor mir. Sie wagten nicht, wirklich Hand an mich zu legen. Keiner wollte mein Henker sein. Hahahaha!"
Das Gelächter des Unheimlichen brauste durch unsere Köpfe. Einige wanden sich schmerzverkrümmt auf dem Boden. Sie waren besonders anfällig für seine Beeinflussung.
Ich fragte mich, ob der
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