0803 - Meleniks Mordnacht
Sturms Tribut zollen?
Sie wusste es nicht, alles war so verkehrt gelaufen. Sie stand in der normalen Welt, und Marie lief weg, ohne dass es ihr richtig bewusst wurde. Tausend Geräusche hüllten sie ein. Jaulen, Schreien, Donnern und auch Klagen.
Dass sie den Schirm verlor, merkte sie nicht. Die Augen in ihrem hässlichen Rot brannten noch in ihre Gedanken hinein. Nichts anderes sah sie als die verdammten Augen. Böse Blicke, gefährliche Löcher, Hass und Abscheu waren ihr entgegengeflutet, und sie hörte sich selbst schreien.
Marie glitt auf dem nassen Pflaster aus. Sie fiel hin, raffte sich wieder auf, hetzte weiter, gejagt von grauen Regenschleiern, und die Tropfen hämmerten gegen sie, trieben die Frau noch weiter voran.
Niemand war da.
Und doch sah sie die Schatten in ihrer Umgebung. Sie tanzten, sie huschten und bewegten sich, sie griffen nach ihr wie mit langen, nassen Händen, und Marie wusste nicht einmal genau, wohin sie überhaupt lief. Manchmal prallte sie auch mit der Schulter gegen irgendwelche Hindernisse, was sie kaum merkte.
Die Angst peitschte sie vor – und genau in die Arme eines Mannes hinein.
Wo er so plötzlich hergekommen war, wusste sie nicht. Aber er hatte vor ihr gestanden und fing sie auf. Sie hörte die beruhigende Männerstimme. Marie wurde zur Seite gezogen, die nächsten Sekunden verschwanden nicht mehr aus ihrer Erinnerung, aber sie stellte fest, dass es plötzlich nicht mehr regnete.
Die Stimme ließ sich nicht stoppen. Sie flutete hinein in das Kissen ihrer Erinnerung, und Marie wurde allmählich klar, dass sie die Stimme schon gehört hatte. Dieses etwas raue Organ war ihr nichtfremd, auch das Gesicht nicht, das sich nur allmählich vor ihren Augen hervorschälte.
Ein Männergesicht.
»Du…?«
»Ja, ich…«
Marie senkte den Kopf. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie an einem Tisch hockte. Unter ihr spürte sie die harte Sitzfläche eines Stuhls.
Das Wasser rann ihr aus der Kleidung, es bildete kleine Lachen um ihren Sitzplatz, und sie stellte fest, dass auf ihrem Körper ein leichtes Gewicht lag. Es hatte sich verteilt, weil der Mann ihr eine Decke umgehängt hatte.
»He, erkennst du mich nicht?«
Sie hob den Kopf.
Der Mann lächelte sie an. Sein Mund war breit, die Wangen wie immer etwas rosig. Das war Cocard, der Küster.
»Du…?«
»Ja, ich, Marie. Himmel, was ist mit dir los?«
»Weiß nicht«, flüsterte sie mit Zitterlippen.
»Du bist mir plötzlich in die Arme gelaufen. Ich öffnete eines der kleinen Seitenportale und wollte nachsehen, na ja, und da bist du mir genau in die Arme gelaufen. Du bist dabei so anders gewesen, Marie.«
»Wie denn?«
»Sage ich dir gleich. Erst hole ich dir mal einen Cognac, der wird dir schmecken und gut tun.«
Sie nickte, ohne es so zu meinen. Wie eine Puppe saß sie am Tisch, die Arme auf die Platte gelegt, die Hände gefaltet. Ihr Blick war ins Leere gerichtet. Gedanken und Erinnerungen wühlten sie auf. Hinter ihrer Stirn schmerzte es. Sie musste für einen Moment die Augen schließen und sich ganz sich selbst überlassen.
Das klappte nicht. Es war unmöglich, auch nur den Ansatz der Entspannung zu finden, zudem störten sie die Trittgeräusche des zurückkehrenden Küsters bei ihren Gedanken. Er erschien an ihrer rechten Seite und stellte ihr das Glas hin.
»Da, trink.«
Marie schaute hin. Der Küster hatte es gut mit ihr gemeint und ihr den Schwenker zu einem Drittel gefüllt. »So viel kann ich nicht«, sagte sie leise.
»Dann lässt du den Rest stehen.«
»Ja.« Zwischen beide Hände musste Marie das Glas nehmen Sie zitterte immer noch und dies nicht nur vor Kälte, sondern auch in der Erinnerung an das Erlebte.
Der Küster hatte sich ebenfalls einen Platz am Tisch gesucht. Er saß ihr gegenüber und beobachtete, wie sein Schützling in kleinen, vorsichtigen Schlucken trank. Der Raum hier war sehr schlicht eingerichtet. Ein Tisch, drei Stühle, ein Schrank, zwei Kreuze an den Wänden und noch eine kleine elektronische Orgel zum Üben, das war alles.
Cocard, der Küster, war in Ehren ergraut. Er hatte Lebenserfahrung sammeln können. Zudem kannte er beinahe jeden in der Stadt, doch was er hier sah, gefiel ihm überhaupt nicht. Es hing mit Marie Avide zusammen, die er so nie erlebt hatte. Sie war mit den Nerven am Ende. Was da an Tropfen über ihr Gesicht lief, stammte nicht mehr vom Regen, es waren Tränen, die aus den Augen quollen. Am Cognac konnte es sicherlich nicht liegen, er gehörte zu der weichen
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