0804 - Das Teufelstor
Wesen uralt. Gryf sah den zahnlosen Mund, der in einem Schmerzschrei geöffnet war. Doch es kam kein Ton über die zerfurchten Lippen, die zwei blassen Strichen glichen. Die Wangen waren eingefallen, sodass man deutlich die Knochen hervorstehen sah; die Stirn, das Kinn… sie wirkten wie Kraterlandschaften, die von der Zeit erschaffen waren.
Doch Gryfs Blick wurde gefangen von dem Auge! Das Wesen war ein Zyklop - über der Nasenwurzel prangte ein lidloses Auge, in dem alles Leid und alle Qualen zu lesen waren, die diese Kreatur sicher seit ewigen Zeiten erleiden musste. Völlig fasziniert versank der Druide vom Silbermond in der großen Pupille, die golden leuchtete.
Genau in dieser Sekunde wusste er, wer seine Fähigkeit zum zeitlosen Sprung blockte. Es war dieses Wesen, und es tat dies nur, weil Ormoff es dazu zwang. Gryf konnte in diesem Blick nicht einmal den Hauch des Bösen lesen. Diese Kreatur war ein Gefangener wie er!
Entsetzt fiel Gryfs Blick erneut auf die Leichenteile vor dem Thron. Die Köpfe, die dort lagen… erst jetzt bemerkte der Druide, dass drei von ihnen nur eine einzelne Augenhöhle aufwiesen. Ormoff hatte die Artgenossen des Wesens zu Tode gequält, damit die Kreatur ihm zu Diensten war! Das war so ungeheuerlich, dass Gryfs Ekel und Abscheu vor dem Blutsauger bis ins Unermessliche stieg. Doch es barg zugleich noch eine weitere Wahrheit in sich: Zumindest ein weiteres dieser Goldaugen musste noch am Leben sein, denn sonst hätte Wlady kein Druckmittel mehr gegen seinen Sklaven in der Hand. Dass diese Wesen nicht von Ash’Tarr stammten, war Gryf klar, und er konnte sich nicht einmal mit all seiner Phantasie vorstellen, was sie hierher verschlagen hatte. Doch das spielte im Augenblick keine Rolle. Es galt, diese neue Situation für seine Zwecke zu nutzen.
Und genau das tat der Druide.
Er bündelte die Kraft seiner Gedanken und schickte eine telepathische Nachricht zu der einäugigen Gestalt.
Wenn das Goldauge sie richtig deuten konnte, wurden die Karten hier gleich völlig neu gemischt werden. Wenn nicht, dann sah Gryfs Zukunft alles andere als golden aus.
Exakter gesagt würde er dann mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit keine Zukunft mehr haben…
***
Ein Unheimlicher bewegte sich durch Château Montagne. Er wusste, dass Zamorra und seine Gefährtin nicht anwesend waren, dass sie dem Rätsel der sich schließenden Tore folgten. Dennoch bemühte er sich, von niemandem gesehen zu werden.
Vor allem nicht von dem Jungdrachen. Der war der einzige, der dem Unheimlichen in diesem Moment gefährlich werden konnte.
Lucifuge Rofocale suchte Zamorras Arbeitszimmer auf.
Seit kurzem war es ihm möglich, das Château ungehindert zu betreten. Ein Testversuch, in dem er eine Hilfskreatur entsandt hatte, lieferte ihm den Beweis. Zamorra hatte diese Kreatur zwar vernichtet, und er rätselte sicher darüber, wie sie hatte eindringen können. Aber Lucifuge Rofocale wusste, dass der Dämonenjäger aus eigenem Können heraus niemals darauf kommen konnte, wie das möglich war.
Er war durch Magie in dieser Hinsicht blockiert .
Er war nicht in der Lage zu begreifen, dass der weißmagische Abwehrschirm um das Château durchlässig geworden war. Selbst wenn man es ihm gesagt hätte, er hätte es nicht geglaubt. Er hatte doch selbst die Abwehrsymbole geprüft und sie für intakt befunden.
Was sie aber nicht mehr waren. Doch das konnte Zamorra nicht begreifen. Er registrierte etwas anderes als das, was er sah. Und das lag an seiner Beschäftigung mit einem Zauberbuch, von dem er ebenfalls nicht wusste, auf welchem Weg er in seinen Besitz gekommen war.
Das Buch mit den 13 Siegeln der Macht!
Dass es sich um ein trojanisches Pferd des Lucifuge Rofocale handelte, ahnte er nicht.
Und jetzt war der Herr der Hölle selbst ins Château gekommen. Lautlos bewegte er sich durch Korridore und über Treppen und betrat das Arbeitszimmer des Mannes, den er bei der »Operation Höllensturm« in der Spiegelwelt vor dem Tod bewahrt hatte. Durchaus nicht ohne Hintergedanken…
Der Erzdämon ließ sich am Computerterminal nieder. Dann rief er die Daten ab, die Zamorra sich erst vor kurzer Zeit beschafft hatte.
Sein Gesicht verzog sich zu einem zufriedenen Lächeln.
Zamorra konnte mit diesem Wissen nichts anfangen. Und aus dem, was er abgefragt hatte, zog der Dämon wiederum den Schluss, dass Zamorras Gefährtin jenseits des Tores verschollen war.
Ein böser Schlag für den Meister des Übersinnlichen, künftig ohne seine
Weitere Kostenlose Bücher