081 - Die geraubte Mumie
hoffentlich konnte er es Dorian mitteilen und etwas unternehmen.
Phillips verschlungene Gedankengänge waren unerforschlich, und seine Handlungen wurden nicht von der menschlichen Logik diktiert. Er war ein lebendes Orakel mit wundersamen Kräften, eine mystische, in mancher Hinsicht abstruse Gestalt.
Olivaro hatte Cocos sekundenlange Starre nicht beachtet. Er schaute zu Gevatter Tod hin, den auch er nur von hinten sah.
Der Seuchendämon hatte die schwarze Brille abgesetzt. Jeff Parker sah das von satanischer Bosheit geprägte alte Gesicht mit der lederartigen Haut und dem schlohweißen Haar. Ein Hauch von Pestilenz und Krankheit umwebte den Seuchendämon. Am schlimmsten aber waren seine Augen, diese leeren Höhlen, in denen Finsternis und Grauen nisteten.
Jeff Parker schaute in diese Augenhöhlen, und er ahnte die furchtbaren Dinge, die darin lauerten. Etwas sprang auf ihn über, und eine Glutwelle und ein Schmerz rasten durch Jeff Parkers Körper.
Er stöhnte auf.
Der Seuchendämon, grinsend die hauerartigen gelben Zähne fletschend, setzte die Brille wieder auf. „Jetzt könnt ihr gehen", sagte er. „Meine Diener werden euch den Weg zeigen. Und glaubt nicht, daß ihr entkommen könnt. Abgesehen von Jeff Parkers Krankheit, werdet ihr ständig von mir und Olivaro beobachtet. Wir werden euch den Weg ins Versteck der Mumie des Hermes Trismegistos freigeben und uns bereithalten."
„Viel Spaß, schöne Coco!" sagte Olivaro spöttisch. „Ich wünsche dir Glück und Erfolg, denn dann werden wir beide noch amüsante Tage miteinander haben."
Haß klang bei diesen Worten aus seiner Stimme.
Coco wußte, daß ihr ein schlimmes Schicksal bevorstand, wenn sie Olivaro ausgeliefert war. Im Augenblick hatte sie eine Galgenfrist, weil er sie brauchte; sie sollte ihm die Kastanien aus dem Feuer holen.
Olivaro konnte satanisch grausam und sadistisch sein. Seine enttäuschte Neigung zu Coco - von Liebe konnte man bei einem Dämon nicht sprechen - würde ihn noch anstacheln.
Coco wurde von den Dienern des Gevatter Tod hinausgeleitet. Jeff Parker folgte ihr wankend. Dicke Tropfen kalten Schweißes standen auf seinem Gesicht, und die Krankheit wütete in seinem Körper. Sein Hals, seine Leistengegend und seine Achselhöhlen schmerzten unerträglich.
Coco und Jeff Parker wurden von einem Dutzend Verseuchter aus dem Kastell geführt. Diesmal hatten sie keine Schwierigkeiten, es zu verlassen.
„Bei ihm ist die Kraft, die stärkste aller Kräfte", deklamierte Phillip. „Denn es wird alle zarten Dinge überwinden und in jedes grobe eindringen. So wurde die Welt geschaffen."
Es war die Fortsetzung des Textes der tabula smaragdina.
Dorian schaute die Mumie an, welche aus dem Sarkophag stieg. Die Smaragdaugen funkelten. „Hörst du mich, Hermes Trismegistos?" fragte Dorian Hunter. „Als Michele da Mosto habe ich versucht, deine Geheimnisse zu ergründen, und ich habe dich lange gesucht."
Die Mumie antwortete nicht, und Dorians Überschwang wich jäh einem Gefühl der Bedrohung. Er spürte, daß etwas nicht so war, wie es sein sollte. Etwas Unheimliches ging von der Mumie aus.
Das war nicht der weise, erhabene und abgeklärte Magier, der da aus dem Sarkophag stieg, nicht der nach dem Guten strebende Hermes Trismegistos. Das war ein gefährliches und unberechenbares Ding.
„Du hast meine Diener getötet", grollte die Mumie.
Sie ging auf den Cro Magnon zu, der bis an die Wand zurückwich und sein Schicksal erwartete. Die goldene Grabbeigabe an die Brust pressend, kam die Mumie immer näher an ihn heran.
Dorian sprang hinzu und packte einen Arm der Mumie. Er wollte sie zurückhalten. Die Binden waren trocken, der Körper darunter war kalt. Dorian spürte ein Prickeln in den Händen, als sei er in ein Schwachstromfeld geraten.
„Was hast du vor?" rief er. „Bist du Hermes Trismegistos, oder bist du es nicht? Sprich!"
Die Mumie blieb stehen. Sie war ebensogroß wie Dorian; mit der Mitra überragte sie ihn noch. Das ausgedörrte Mumiengesicht wandte sich dem Dämonenkiller zu, und die Lippen bewegten sich lautlos.
Während er mit der Rechten die Mumie am Arm festhielt, zog Dorian mit der Linken die gnostische Gemme aus der Jackentasche. Er ließ sie vor den Smaragdaugen pendeln.
„Wer bist du? Im Namen des dreimal größten Hermes, gib mir Antwort!"
„Baron Nicolas de Conde", murmelte die dumpfe Stimme, „Juan Garcia de Tabera, Georg Rudolf Speyer, Michele da Mosto…"
Die Stimme war immer undeutlicher geworden.
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