081 - Schatten der Vergangenheit
Stock in beide Hände und sah sich gehetzt um. Die jungen Triebe an den Büschen bewegten sich leise; hier und da blitzte ein Tautropfen im Morgenlicht. Kry'aan hielt den Atem an. Urplötzlich ließ er den Stock herunter krachen - mitten auf einen Blätterhaufen am Wegesrand. Das leise Rascheln dort verwandelte sich unter dem Schlag in ein Quieken, schrill und kurz. Dann war es vorbei, und erneut senkte sich diese drückende Stille über den Wald. Shenn'aja trat heran, schob das Laub mit der Fußspitze auseinander und verzog den Mund. »Ein Rindenwurm« , stellte sie fest. Der leise Spott in ihrer Stimme trieb Kry'aan heiße Röte ins Gesicht. Schön, die pelzigen, handlangen Schädlinge waren nicht ungefährlich, saugten sie sich doch gerne an den Fesseln vorbeiziehender Huftiere fest - aber Würmer töten war allenfalls eine Aufgabe für Kinder, nicht für einen Mann.
»Das wird nicht gefressen, dummes Vieh!« , fauchte Kry'aan und trat mit unnötiger Härte nach dem Hund, der neugierig schnüffelnd heran kam. Das Tier wurde ins Gebüsch geschleudert, und Ellik stürzte weinend hinterher, um es zu bergen.
Namuuki, so hieß die kleine weiße Pelzkugel, war ein federleichtes Ding mit schwarzen Knopf äugen, nicht viel größer als ihre nie gekannten Vorfahren, die Zwergpudel des 21. Jahrhunderts.
Eine fortlaufende Mutation verschiedener Gene hatte das ursprüngliche Aussehen verändert und die kläffende Lebensform zum perfekten Seelentröster einsamer Kinder gemacht: Die gerade zwölf Wochen alte Hündin mit dem Kugelkopf erinnerte an ein Robbenbaby; plüschweich und ungemein verschmust. Ellik nahm sie in die Arme und bedachte ihren Vater mit vorwurfsvollen Blicken.
Kry'aan schnaubte nur und wandte sich ab. Er selbst hatte Namuuki angeschafft; einen Tag nach Shems Tod, um Elliks Kummer zu lindern: Das Mädchen und Shem waren Zwillinge gewesen, unzertrennlich wie Klettenkäfer.
Verstohlen fuhr sich Kry'aan mit dem Handrücken übers Gesicht. Er hatte große Hoffnungen in seinen Sohn gesetzt, dessen Ähnlichkeit mit der Schwester sich im Aussehen erschöpfte.
Der Schamane war überzeugt gewesen, dass Shem - weit mehr noch als Kry'aan - die Gabe des Lauschens besaß! Seinetwegen hatte der wandernde Clan die Richtung geändert, um ein Kloster zu finden, von dem es hieß, dass Auserwählte wie er dort unterrichtet würden.
Eile war geboten, denn solche Kinder durften nicht älter als sieben Winter sein. Deshalb hatte der Clan die Steppe verlassen und eine Abkürzung durch den Wald genommen. Diesen verfluchten Wald. Mein ganzes Volk liegt hier begraben! , dachte der Viehhändler verzweifelt.
Das ganze Volk ! Kry'aan holte aus und schmetterte seinen Stock gegen einen der dunklen Felsen am Wegesrand, die mehr und mehr den Platz der Sträucher einnahmen.
Unmerklich hatte sich die Landschaft verändert. Das wuchernde Dickicht lockerte sich auf, und zwischen den knorrigen Bäumen war gelegentlich ein Stück Himmel zu erkennen. Und noch etwas hatte sich verändert.
»Hier stinkt's!« , sagte Ellik und griff sich an die Nase. Der Hund auf ihrem Arm nutzte die Gelegenheit zur Flucht, wand sich zappelnd aus den Kinderfingern und sprang zu Boden. Mit hellem Japsen spurtete Namuuki an Kry'aans Seite - weniger aus Liebe als vielmehr wegen der ledernen Vorratstasche, die am Gürtel des Händlers baumelte. Ellik, die einen weiteren Tritt befürchtete, kam ihr eilig nach.
Aber Kry'aan beachtete den Hund gar nicht. Noch vor einer Stunde hatte der Wind, wenn er auffrischte, einen merkwürdigen Salzgeschmack herangetragen, und Kry'aan erinnerte sich, dass er ihn schon einmal auf den Lippen gehabt hatte - vor langer Zeit, als sein wandernder Clan eine Küste erreichte und umkehren musste. Insgeheim hatte er sich bereits gefragt, ob sie etwa erneut auf ein Meer zusteuerten. Doch nun war der Gedanke vergessen. Es stank tatsächlich, und zwar beißend! Kry'aan, der nicht wissen konnte, was Schwefelgase sind, glaubte an das Nahen eines Dämons und rüstete sich zum letzten Kampf.
Rumms. Wieder erzitterte der Boden, heftiger als zuvor. Der Hund kniff sein Stummelschwänzchen ein, warf den Kopf in den Nacken und heulte wie ein zu klein geratener weißer Wolf; Kry'aan griff haltsuchend nach einem Baumstamm, Ellik fiel der Länge nach hin.
Einzig Shenn'aja bewahrte die Ruhe.
Mit schwankend ausgestrecktem Arm zeigte sie zwischen zwei Felsen hindurch nach links.
»Da vorne ist der Wald zu Ende!« , sagte sie nur. Kry'aan folgte dem
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