0814 - Mister Amok
frisch. Sie konnte sich durchaus mit einer Studentin aus einem der letzten Semester vergleichen. Das Haar trug sie halblang, leicht wellig. In den letzten Jahren war es etwas heller geworden, irgendwann würde es vielleicht grau werden. Sie hatte sich vorgenommen, ihr Alter mit Fassung zu tragen.
Der Mund war noch immer sehr schön. Im Spiegel lächelte sie sich zu, und sie hatte das Gefühl, als würde neben ihrem Gesicht der blasse Schatten eines anderen schweben.
Sam lächelte ihr zu. Ja, er lächelte, und er fand es gut, wie sie das Leben meisterte.
Ein Kloß breitete sich in ihrem Magen aus. Scharf atmete sie durch die Nase, um die Tränen zu unterdrücken. Nicht jetzt, lieber später.
Was sollte ihr Sohn sagen, wenn er die Mutter an seinem Festtag mit verheulten Augen im Auto hocken sah? In der Nacht würde sie bestimmt mit Sam »sprechen«. Sie würde ihn fragen, was wohl zu tun war. Das hatte sie des Öfteren getan, und nach diesen »Gesprächen« war sie immer zufrieden gewesen.
Amy rückte den Spiegel wieder an die richtige Stelle und schaute gegen die Scheibe. Dort zeichnete sich noch immer das Grün der Parkplatzumrandung ab.
Sie schaute auf die Uhr.
In drei Minuten würden die Kinder aus der Schule stürmen. Sie lächelte, wenn sie an die glänzenden Augen ihres Sohnes dachte, denn Jake freute sich wie wahnsinnig auf seinen Geburtstag.
Die Ruhe auf dem kleinen Parkplatz war dahin. Immer mehr Mütter kamen, um ihre Kinder abzuholen. Einige mit Autos, andere zu Fuß.
Eine Bewegung lenkte Amy ab. Unwillkürlich schaute sie hin.
Da stand die Frau.
Unbeweglich. Grau im Gesicht, strähniges Haar, das Gesicht zu einem grausamen Lächeln verzogen. Die Augen waren starr, schimmerten sie vielleicht rötlich?
Amy ballte die Hände zu Fäusten zusammen. Sie stützte sich zu beiden Seiten des Sitzes auf. Plötzlich war ihr eiskalt geworden, und die Erinnerungenkehrten mit der brutalen Wucht eines Hammerschlags zurück.
Es war die Frau vom Fenster. Die Hexe, die ihren zweiten Sohn geraubt hatte.
Jahrelang hatte Amy diese Person nicht gesehen. Jetzt aber war sie erschienen. Ein böses Trugbild, eine schreckliche Erinnerung an weniger gute Zeiten.
Die andere Person, deren Name sie nicht einmal kannte, bewegte sich nicht. Sie war einfach nur da, und sie hatte ihren Blick direkt auf das Fahrzeug gerichtet.
Amy Lester fror. Ein kalter Strom drang über und durch ihren Körper. In diesem Augenblick hatte sie alles vergessen, die Vergangenheit war wieder lebendig geworden, und sie ahnte in dieser schrecklich langen Minute, dass sie zurückkehren würde.
Vielleicht stärker als zuvor.
Vielleicht mit Jory…?
Amy stöhnte auf. Angst schüttelte sie. Beide Hände wollte sie gegen ihr Gesicht pressen, um diesem Anblick zu entkommen. Das schaffte sie nicht, denn sie fühlte sich wie gelähmt.
Jemand klopfte seitlich an die Scheibe.
Amy rührte sich nicht.
Noch einmal das Klopfen. Dann wurde die Beifahrertür schwungvoll aufgerissen.
»Mummy, Mummy!« Jakes helle Stimme durchbrach die düstere Welt der Amy Lester.
Noch einmal schaute sie nach vorn, aber die Büsche dort bewegten sich nicht. Sie war allein, nur der Wind spielte mit den Blättern. Von der Gestalt war nichts zu sehen. Hatte sie sich geirrt? War sie irgendwie schon verrückt geworden?
Amy wusste es nicht. Die Vergangenheit war einfach zu stark gewesen. Schlimme Eindrücke hatten sie erwischt, und sie fühlte sich wie gerädert.
Jake stieg in den Wagen und rüttelte an ihrer Schulter. »He, Mummy, was ist denn mit dir? Bist du eingeschlafen?«
Unbewusst hatte er ihr genau die Ausrede in den Mund gelegt, die sie brauchte. »Ja, mein Schatz, du hast Recht gehabt. Ich habe geschlafen.« Zuerst wischte sie über ihre Augen, dann drückte sie sich nach links und umarmte Jake.
Der war überrascht. Es war ihm zwar nicht unangenehm, von seiner Mutter gedrückt zu werden, aber was sollten die Klassenkameraden sagen, die in der Nähe standen und feixten? Schließlich war man mit zwölf Jahren beinahe schon ein Mann.
»Danke, Mummy, aber…«
»Geht es dir gut?«
»Ja, Mummy.«
Sie drückte ihn wieder von sich. In ihren Augen schimmerten Tränen.
»Warum weinst du denn? Hast du wieder an Dad gedacht?«
Amy nickte. »Ja, ich habe an Dad gedacht, und ich wäre glücklich, wenn er deinen Geburtstag hätte erleben können.«
»Er schaut doch zu.«
Sie streichelte seine Wangen. »Du bist lieb.«
Jake glich Sam. Er hatte seine Gesichtszüge, zwar
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