0814 - Mister Amok
Studenten und Studentinnen hatten zu ihr so etwas wie ein Vertrauensverhältnis aufgebaut, denn oft genug berichteten sie von ihren Sorgen und Nöten, um sich bei Mrs. Lester den nötigen Rat zu holen.
Sie war eine Frau, die mit beiden Beinen im Leben stand und nicht so abgehoben hatte wie die meisten Wissenschaftler, und Amy freute sich, wenn sie Ratschläge erteilen konnte, die anschließend auch befolgt wurden.
Das war die eine Seite ihres Lebens, die andere jedoch hieß Jake.
Ihrem Sohn schenkte sie ihre gesamte Liebe, und der Junge hatte sich prächtig entwickelt. Er gehörte in der Schule zu den besten, war sogar zum Klassensprecher gewählt worden, und seine Mutter war stolz auf ihn. Manchmal jedoch lag sie im Bett und weinte. Dann dachte sie daran, wie schön es doch gewesen wäre, wenn Sam das alles mitbekommen hätte. Aber Sam war tot.
Manchmal stellte sie sich vor, dass er auf einer Wolke weit, weit über ihr saß, auf sie herabschaute und zufrieden lächelte, wenn er die Entwicklung seines Sohnes Jake sah. Hin und wieder sprach Amy mit ihm. Sie vertraute ihm ihre Sorgen an, und sie hatte dabei stets das Gefühl, von ihm verstanden zu werden und auch Antwort zu bekommen.
Die schreckliche Frau hatte sie zwar nicht vergessen, aber die Erinnerung an sie war ziemlich verblasst. Hinzu kam, dass sie ihrem Sohn nichts von seinem Zwillingsbruder erzählt hatte. Jake wusste nur, dass sein Vater verunglückt war. Er liebte ihn trotzdem. Weshalb hätte er sonst seine Bilder im Zimmer aufgestellt?
Durch Beziehungen war es ihr gelungen, ein kleines Haus zu pachten. Es stand auf dem Land, das der Universität gehörte, und ganz in der Nähe befand sich der Oxford-Kanal. Er bildete praktisch die westliche Grenze des Grundstücks.
An diesem Freitag wollte Amy nicht bis zum Feierabend durcharbeiten. Jake hatte Geburtstag. Er wurde genau zwölf Jahre alt, und jeden Geburtstag feierten die beiden.
Sie gingen dann aus, gönnten sich ein feines Essen, und Jake kriegte immer ein Eis. Dann sprachen sie auch von früher.
Kurz vor Schulschluss machte auch sie Feierabend, stieg in ihren kleinen Morris und fuhr zur Schule, um Jake abzuholen.
Die Schule, ein roter Backsteinbau, lag etwas außerhalb. Sie war von einer Grünfläche umgeben.
Mit dem Wagen konnte sie nicht bis an die Schule heranfahren, deshalb stellte sie sich auf den Parkplatz, von dem aus eine Stichstraße – umsäumt von Büschen – bis an den Schulhof heranführte.
Die Kinder lebten wie auf einer kleinen Insel. Sie fühlten sich wohl. Die Großstadt hatte diese Gegend mit ihrem Pestatem noch nicht erreicht. Oxford bestand eben aus viel Tradition, hier lebte man noch sehr britisch, war konservativ, und sowieso war die gesamte Stadt von der berühmten Universität geprägt.
Ihre Gedanken glitten zurück. Zwangsläufig erinnerte sich Amy an Tagen wie diesem an die Geburt ihres Sohnes. Sie saß hinter dem Lenkrad, hatte den Sitz etwas zurückgekippt und betrachtete die Windschutzscheibe. In ihr spiegelten sich die Bäume und Büsche.
Der leichte Wind strich über und zwischen sie hinweg. Durch Lücken lugten die Strahlen der Sonne. Sie tupften gegen den Boden, sie vergoldeten das Blattwerk. Dieser Tag hielt keinen Vergleich zu dem stand, als das Schreckliche geschehen war und Jake gleichzeitig das Licht der Welt erblickt hatte.
Trotz allem glaubte Amy Lester an die Gerechtigkeit des Schicksals. Es hatte ihr durch Jake einen wunderbaren Jungen zugeteilt, was gar nicht so normal war. Oft genug lief so etwas anders herum.
Da wurden die Kinder zu kleinen Biestern, die ihren Eltern viel Ärger bereiteten.
Nicht Jake.
Natürlich war er kein Wunderkind. Auch er hatte seine Ecken und Kanten. Man konnte ihn nicht eben als pflegeleicht bezeichnen, aber mit seiner Mutter kam er sehr gut zurecht. Amy hatte auch darauf geachtet, ihn nicht zu beherrschen. Sie ließ ihm viele Freiheiten und führte ihn mehr an der langen Leine.
Zwölf Jahre waren seit der Geburt vergangen. Die Zeit war auch nicht stehen geblieben. Vieles hatte sich verändert. 1980 war der Beginn eines neuen Jahrzehnts, und wenn sie überlegte, waren es nur mehr zwanzig Jahre bis zur Jahrtausendwende.
Amy schüttelte sich, als sie daran dachte. Wie schnell doch die Zeit vergangen war. Sie schaute in den Innenspiegel und betrachtete ihr Gesicht. Die Dreißig hatte sie überschritten. Amy war froh, dass man ihr trotz zahlreicher Sorgen das Alter nicht ansah. Noch immer wirkte sie jugendlich und
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