0814 - Mister Amok
Kraft gegeben.
Es war so wunderbar gewesen, ein neues Leben festhalten zu können. Ein winziger Mensch, dessen Existenz ebenfalls einem Wunder gleichkam. Jake lebte, Jake war gesund, und sie wusste nicht einmal, bei wem sie sich für diese Geburt bedanken sollte.
Nachdem sich ihr Zustand etwas gebessert hatte, war es ihr gelungen, nachzudenken. Sie hatte sich den Vorgang noch einmal in Erinnerung gerufen und ihn immer wieder vor ihrem geistigen Auge ablaufen lassen. Dabei war ihr bewusst geworden, wie stark das Erinnerungsvermögen doch gelitten hatte. Nichts war mehr so wie sonst. Die Vergangenheit schwamm in einer nebligen Suppe, die alles aufsaugen wollte. Sie kam damit einfach nicht zurecht, denn dieser Nebel wurde von kaum einem Sonnenstrahl der Erinnerung durchbrochen.
Fragmente nur, mehr nicht.
Ein Gesicht, verschwommen. Dazu eine Frauenstimme, die mal in ihrem Hirn gewesen war, dann aber leiser wurde oder versickerte, als hätte jemand am Lautregler eines Radios gespielt.
Alles sackte weg, tauchte mal wieder auf. Bruchstücke und gleichzeitig verbunden mit Phantomschmerzen. Noch immer glaubte Amy, die Wehen zu spüren. Immer wenn es so weit war, kriegte sie Schüttelfrost oder Gänsehaut. Dann war die Erinnerung so stark, dass sie sogar das Klatschen der Regentropfen auf ihrem Körper mitbekam. Das Gesicht, der Mund, das Lächeln, beinahe schon ein Grinsen. Amy hatte die fremde Frau nie zuvor gesehen, aber sie wusste sehr genau, dass sie dieser Person ihr Leben verdankte und das ihres Sohnes Jake.
Sobald sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde und wusste, was mit Sam geschehen war, würde sie alles versuchen, um diese Frau zu finden. Sie würde ihr gegenüberstehen und ihr erklären, wie dankbar sie sich fühlte.
Ja, so und nicht anders sollte es laufen.
Amy merkte, dass es ihr noch immer nicht leicht fiel, sich gedanklich auf eine bestimmte Sache zu konzentrieren. Des Öfteren schwammen die Gedanken weg, als wollten sie hineintauchenin die Ferne, wo es nichts gab als eine grenzenlose Leere.
Und doch war da etwas.
Amy konnte es nicht sagen, doch sie hatte den Eindruck, aus dieser Leere heraus belauert zu werden. Da lag irgendeine Kraft, irgendein Wesen, das seinen Blick auf sie gerichtet hielt, um nur nicht die Kontrolle zu verlieren.
Wieder konzentrierte sie sich auf den Park. Er war so wunderbar.
Das satte Grün der Bäume, die herrlichen Sommerblumen, die in einer wahren Farbenpracht aus dem Boden geschossen waren und sicherlich auch einen tiefen Duft verbreiten würden. Ein blauer Himmel, der sich beinahe wolkenlos über diesen kleinen Park spannte.
Die hell gestrichenen Bänke, von denen die meisten besetzt waren.
Das Gezwitscher der Vögel, das als nie abreißende Melodie durch die Öffnung des schräg gestellten Fensters an ihre Ohren drang.
Dies alles war so wunderbar, das war das pralle Leben, an dem sich Amy früher so sehr hatte erfreuen können.
Heute nicht mehr.
Sam war nicht da.
Sie war allein.
Die Welt hatte ihre Farbenpracht verloren. Amy war in ein tiefes Loch gestürzt. Allein die Tatsache, dass sie bald Verantwortung für ein Kind tragen musste, hatte sie von einem Selbstmord abgehalten.
Sie würde Jake ihre ganze Liebe geben. Er war ihr geblieben, und sie würde für ihn sorgen wie damals für Sam.
Amy weinte.
Sie senkte den Kopf. Die Erinnerung an ihren Mann schüttelte sie durch. Die Tränen flossen in Strömen. Heute war so ein Tag, an dem sie weinen konnte. An anderen Tagen war das nicht der Fall gewesen, nun aber musste sie einfach den Strom der Tränen freien Lauf lassen.
Mit beiden Händen stützte sie sich auf der kalten Steinfensterbank ab. Eine leere Vase stand dort. Sie verschmolz mit dem Strom der Tränen, und Amy war so mit sich selbst beschäftigt, dass sie nicht hörte, dass geklopft worden war und sich hinter ihr langsam die Tür öffnete. Eine farbige Krankenschwester betrat das Zimmer. Sie hieß Corinna, wurde aber nur Coco genannt. Ihre Heimat war Kuba.
»Mrs. Lester…«
Amy hörte die Stimme, wischte sich die Tränen ab und drehte sich um.
Coco stand neben dem kleinen Tisch mit den beiden Stühlen. Sie wollte aufmunternd lächeln, doch es wirkte gequält. Durch die weiße Kleidung wirkte die Haut noch dunkler, und von den großen Augen der Zwanzigjährigen schien ein Leuchten auszugehen. Coco war sehr lieb. Sie gehörte noch zu den wenigen Krankenschwestern, die tatsächlich mit den Patienten mitlitten. Bei ihr fühlte sich Amy gut
Weitere Kostenlose Bücher