082 - Die weisse Frau
daß sie bereits schwanger war. Sie konnte ihren Zustand zunächst verbergen und das Kind zur Welt bringen, dann aber tötete sie es aus Furcht vor der Strafe. Sie wissen, selbst in unserer heutigen Zeit glaubt der Adel noch immer, etwas Besseres zu sein. Und auch heute noch klopft den Bürgerlichen freudig das Herz, wenn sich einmal ein Adliger herabläßt, ein nicht blaublütiges Mädchen zu ehelichen. Doch damals herrschten strenge Sitten. Der Kindesmord würde entdeckt und dem Herrn Grafen zugetragen. Ulrike wurde aus dem Kloster verjagt. Ihr Vater meinte, die Schande nicht ertragen zu können, und verurteilte seine Tochter zu einer grauenhaften Strafe. Er ließ sie lebend hier im Schloß einmauern.“
„Mein Gott!“ sagte Anne Bloom erschüttert. „Müssen Sie mit diesem unerträglichen Sarkasmus von diesem tragischen Schicksal berichten?“
„Der schönen Ulrike macht das nichts mehr aus. Sie ist längst zu Staub und Asche zerfallen – sollte man meinen.“
„Das sagen Sie so eigenartig?“
„Die Chronik weiß auch Eigenartiges darüber zu berichten, liebe Kollegin. Sie behauptet nämlich, daß Ulrike keine Ruhe findet. Will man diesem Buch glauben, dann irrt Ulrike seit vierhundertvierzig Jahren durch das Schloß und sucht verzweifelt nach ihrem Kind. Offenbar in ihrem Verlies wahnsinnig geworden, hat sie vergessen, daß sie selbst es war, die das Kind umgebracht hat.“
Dr. Lohmann klappte die Chronik zu, legte eine Hand auf das Buch und blickte Anne Bloom erwartungsvoll an. Seine Augen wirkten durch das dicke Glas unnatürlich klein.
„Ich verstehe immer noch nicht ganz“, sagte die Englischlehrerin unsicher.
„Ulrike war zwanzig Jahre alt, als es geschah. Alle zwanzig Jahre erscheint sie im Schloß. Die meisten Menschen, die sie gesehen haben, starben kurz darauf auf geheimnisvolle Weise oder verloren vor Entsetzen den Verstand – behauptet die Chronik. Aus diesem Grund war das Schloß äußerst schwer zu veräußern. Die jeweiligen Schloßherren hielten es hier immer nur zwanzig Jahre lang aus – bis die weiße Frau erschien. Das letztemal ist vor zwanzig Jähren in diesem Haus ein bildschönes Mädchen auf sehr, sehr merkwürdige Weise umgekommen. Das war im August 1954. Damals gab es hier noch kein Internat. Frau von Stöckingen hat das Schloß erst später gekauft, renovieren lassen und dann hier ihre Schule eröffnet. Ich versichere Ihnen, meine liebe Freundin, daß unsere gemeinsame Chefin fast in Ohnmacht fiel, als ich ihr berichtete, was in der Chronik steht. Es war ein zu Herzen gehender Anblick, sie einmal so echauffiert zu sehen.“
„Sie sind ein Ekel!“
„Sie haben recht, aber das ist einer der wenigen Genüsse, die mir in meinem Alter noch bleiben.“
„Eklig zu sein?“ Anne schürzte die Lippen. „Ich kann mir etwas Schöneres vorstellen.“
„Uns trennen ja auch ein paar Jahre. Leider, meine Liebe.“
Anne Bloom zwang sich, zum Thema zurückzukommen. Sie wollte sich auf kein Streitgespräch mit Lohmann einlassen.
„Dann glauben Sie mir also endlich, daß ich die weiße Frau gesehen habe?“
„Das habe ich nicht gesagt, werte Kollegin.“ Lohmann lächelte süffisant. „Ich habe völlig wertfrei wiedergegeben, was Sie vor einigen Tagen sicherlich auch schon gelesen haben.“
„Ich hatte keine Ahnung von dieser Chronik. Steht da auch drin, wie oft die weiße Frau erscheint?“
„Nein, das nicht. Aber die Chronik weiß zu berichten, daß Ulrike drei Nächte lang kommt. Und jede Nacht wird schrecklicher. In der letzten – so behauptet dieses Buch – geht das Grauen um.“
Er lächelte und gab ihr zu verstehen, daß er nicht ein einziges Wort von dem glaubte, was in der Chronik stand. Anne Bloom aber wußte, daß das Buch nicht log, sondern vielmehr eine entsetzliche Wahrheit schilderte.
„Die dritte Nacht“, wiederholte sie tonlos. „Die zweite ist erst angebrochen. Wir sollten auf die Mädchen aufpassen.“
Harriett Mahler dachte gar nicht daran, im Bett zu bleiben. Sie gehorchte, als Frau von Stöckingen Nachtruhe anordnete, aber kaum war es im Haus ruhig geworden, als sie schon wieder aus dem Bett schlüpfte, Jeans und einen Pulli anzog und zu Petra König hinübereilte.
Die Freundin saß auf ihrem Bett. Sie war bleich und sah ängstlich aus.
„Komm, Petra“, sagte Harriett. „wir durchsuchen das Schloß! Es wäre doch gelacht, wenn wir nicht hinter den ganzen Schwindel kommen sollten.“
„Schwindel? Vielleicht spukt es
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